Die Braut des Vagabunden
verschwitzt, versuchte sie, sich zu erheben, doch Jack beugte sich hinab und zog sie auf die Füße. Sie verkrampfte sofort, aus Furcht vor seiner Missbilligung. Zu ihrer Überraschung zog er sie an sich.
„Ich sehe dich gern lachen“, flüsterte er.
Seine unerwartete Bemerkung – und natürlich die Berührung seiner Arme – ließen sie erschauern vor Freude. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Jakob Desirée küsste, ehe er ihr hochhalf. Sie erkannte, dass die beiden einander ehrlich liebten, und sie fragte sich sehnsüchtig, ob Jack jemals eine so zärtliche Zuneigung für sie entwickeln würde.
„Jetzt bin ich an der Reihe“, sagte Desirée zu Jakob. „Wo ist mein Stab?“
„Stab?“ Temperance sah, wie Jakob in komischer Verzweiflung zu Jack eine Grimasse schnitt und drehte sich um, um festzustellen, ob ihr Gemahl mit einem ähnlichen Ausdruck männlicher Überlegenheit antwortete. Es machte Temperance nichts aus. Es war ihr lieber, wenn Jacks Cousin sie neckte, als wenn er sie mit höflich verstecktem Misstrauen beobachtete. Sie hoffte, es war ein Zeichen, dass er sie akzeptierte.
„Was ist falsch an der Bezeichnung Stab?“, fragte sie. „Es ist doch einer.“
„Man nennt es Queue.“ Jakob nahm ihn in die Hand und spähte über den Tisch.
„He! Einen Moment!“, sagte Desirée empört. „Ich bin an der Reihe.“
„Ich wollte dir gerade zeigen, wie es gemacht wird.“
„Wir wollen nicht wissen, wie du das machst“, erklärte sie. „Wir sind ganz gut allein zurechtgekommen, nicht wahr, Euer Gnaden?“, wandte sie sich an Temperance.
„Ja, das sind wir“, erwiderte Temperance. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr uns zuschauen“, sagte sie sehr von oben herab zu Jack. „Und wenn wir fertig sind, könnt Ihr spielen.“
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie sie. Eine Gemahlin durfte nicht in aller Öffentlichkeit so mit ihrem Mann sprechen. Zu ihrer Erleichterung lächelte Jack und verneigte sich, wobei sein Gruß gleichermaßen ihr und Lady Desirée galt.
„Den Damen den Vortritt“, sagte er höflich. „Und dann …“ Händereibend sah er Jakob an. „Dann zeigen wir ihnen, wie es richtig geht.“
Trotz Jacks Ankündigung hatten die Männer vor dem Essen keine Zeit mehr, ihre Fähigkeiten beim Billard zu beweisen, und am Nachmittag kehrten sie nicht mehr zu dem Spiel zurück. Einer von Jacks beiläufigen Bemerkungen entnahm Temperance, dass die Küste nur fünf Meilen von Kilverdale Hall entfernt lag. Als sie sagte, dass sie noch nie das Meer gesehen hatte, schlug Jack vor, am Nachmittag zum Strand zu reiten.
Zu Temperances Überraschung wollten alle, sogar Lord Swiftbourne und die Dowager Duchess, an dem Ausflug teilnehmen.
Toby und Isaac blieben unter Aufsicht von Dr. Nichols auf Kilverdale Hall. Temperance schlug nicht vor, die Jungen mitzunehmen. Selbst ein Ausflug zum Strand war eine großartige Angelegenheit, wenn ein Duke, ein Marquis und ein Earl daran teilnahmen. Jack trat immer selbstsicher auf, Temperance wusste indes, dass er sich in Gesellschaft seines Großvaters oder Lady Desirées niemals ganz entspannt fühlte. Es war nicht nötig, den Nachmittag noch komplizierter zu gestalten, wenn Jack doch jederzeit Toby bei einem gemeinsamen Ausritt ans Meer mitnehmen konnte.
Die kleine Gruppe wurde begleitet von einigen Dienern, die die Livreen von Kilverdale, Halross und Swiftbourne trugen. Da Temperance noch nie zuvor auf einem Pferd geritten war, saß sie hinter Jack.
„Es ist so weit und groß!“ Temperance stand auf dem feuchten Sand, und Haarsträhnen wehten ihr ums Gesicht, während sie aufs Meer hinausblickte. Der Himmel schien perlgrau, das Meer schmückte sich mit verschiedenen dunklen Grau- und Grüntönen. An der Themse gab es Gezeiten, zweimal am Tag stieg oder fiel der Wasserstand, und Wellen umspülten die Treppen, die zum Fluss führten. Die Wogen des Meeres waren anders. Sie rollten an den Strand von einem Horizont, der sich so weit ausdehnte, wie sie nur sehen konnte. Möwen gingen am Rand des Meeres entlang und flogen dann kreischend auf. Die Luft roch beißend nach Tang, und sie atmete tief ein. Weiter im Inland hatte der Winternachmittag recht mild gewirkt, aber hier am Strand zerrte eine Brise an ihren Röcken, und unwillkürlich erschauerte sie.
„Kalt?“ Von hinten legte Jack die Arme um sie. „Wir sollten nicht zu lange bleiben.“
„Mir ist nicht kalt“, leugnete sie, dennoch lehnte sie sich zurück gegen ihn. Es war immer ein
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