Die Braut im Schnee
solltest du das lieber nicht tun», sagte sie.
«Was meinst du? Wie höre ich mich an?»
«Deine Stimme … du sprichst nicht, du krächzt. Du hörst dich an wie ein Hahn im Stimmbruch. Also leg dich lieber ins Bett.»
Er hörte nicht auf sie. Er verließ das Haus und lief los. Er hatte den Stadtwald gerade erreicht, als er merkte, dass esnicht weiterging. Er war zu schwach. Er schwitzte stark und seine Beine zitterten. Also kehrte er um. Zu Hause legte er sich wieder hin. Er hatte bereits über 39 Grad Fieber.
Endlich ließ er sich fallen. Er sah ein, dass er krank war. Es gab nichts, was er tun konnte, außer im Bett zu liegen und sich auszuruhen. Und es begann, ihm zu gefallen. Er merkte, wie die Anspannung der letzten Wochen von ihm abfiel. Sein Körper nahm sich eine Pause.
«Ich bin krank, aber es geht mir gut», sagte er am nächsten Tag am Telefon zu Tereza, die ihm mitteilen wollte, dass sie noch über Silvester und Neujahr in Prag bleiben werde, wo sie eine alte Schulfreundin wiedergetroffen habe.
«Mach das», sagte Marthaler. «Mit mir ist sowieso nichts anzufangen im Moment. Ich genieße es, alleine zu sein, Musik zu hören, zu schlafen und an gar nichts zu denken. Außer an dich.»
Er verbrachte die Nächte und Tage im Halbdämmer. Er stand nur auf, um sich eine neue Kanne Tee zu kochen und um zur Toilette zu gehen. Appetit hatte er nicht. Er kam sich kaum noch vor wie ein Polizist. So geht es also auch, dachte er.
Der Fall der ermordeten Zahnärztin kam ihm immer seltener in den Sinn. Vielleicht hatte Hans-Jürgen Herrmann Recht gehabt. Vielleicht war dieser Fotograf ja doch der Mörder. Vielleicht hat er sich ins Ausland abgesetzt, und uns ist die Sache aus der Hand genommen. Vielleicht ist für uns ja schon alles vorbei.
Als Marthaler solche Gedanken durch den fiebrigen Kopf gingen, konnte er noch nicht ahnen, was einige Wochen später geschehen würde.
ZWEITER TEIL
EINS
Es war kurz nach neun Uhr vormittags, als Andrea Lorenz am 16. Februar ihr Haus in der Neubausiedlung von Bergen verließ. Sie hatte länger als üblich im Badezimmer gebraucht; nun musste sie sich beeilen. Das Außenthermometer zeigte 9,6 Grad Celsius; ein klarer, sonniger Morgen. Der Himmel war blau; man konnte den Tagmond sehen, darunter ein Flugzeug, das glitzernd aufstieg und nach Norden flog. Sie verstaute die beiden Ledertaschen im Kofferraum des roten Passat, legte ihre Jacke darüber und wollte bereits losfahren, als sie merkte, dass sie ihr Notizbuch vergessen hatte. Sie ging zurück ins Haus, wo ihr Mann in der Diele gerade den Frühstückstisch abräumte und sie fragend anschaute. Als sie aus ihrem Arbeitszimmer zurückkam, gab sie Roland noch einen Abschiedskuss. Schon wieder an der Tür, zögerte sie kurz, drehte sich noch einmal zu ihm um und sagte: «Ich liebe dich. Sehr.» An diese wenigen Worte und an ihr Lächeln würde er sich später ein Leben lang erinnern.
Seit er vor anderthalb Jahren seinen Arbeitsplatz als Ingenieur verloren hatte, übernahm Roland Lorenz den größten Teil der Hausarbeit. Er brachte den zehnjährigen Johannes zu seinen Sportveranstaltungen, erledigte die Einkäufe, räumte im Haus auf und kochte das Essen. An diesem Abend sollte es Coq au Vin mit Bandnudeln und Salat geben. Er würde einen Strauß Blumen auf den Tisch stellen und seiner Frau das kleine Kettchen mit dem Bernsteinanhänger geben, das seit Wochen versteckt in seinem Nachttisch lag. Er war gespannt, ob sie daran dachte, dass sie heute ihren Hochzeitstag hatten. Er holte die Zeitung aus dem Briefkasten, um später die wenigenStellenangebote durchzusehen und vielleicht noch ein paar Bewerbungsbriefe zu schreiben. Als die große Baufirma, bei der er über zwanzig Jahre lang gearbeitet hatte, in Konkurs gegangen war, hatte er dafür plädiert, das Haus, in das sie gerade erst eingezogen waren, sofort wieder zu verkaufen. Andrea hatte ihn davon abgehalten. Obwohl sie schon mehrmals mit den Ratenzahlungen in Verzug gekommen waren, beruhigte sie ihn immer wieder: «Lass nur, wir schaffen das schon.»
Ihre Ausbildung als Krankengymnastin und ihr freundliches Auftreten hatten geholfen, dass sie die Alleinvertretung für die Produkte von «Wellness-Medico» im Frankfurter Raum erhielt. Die Firma schaltete zahlreiche Werbeclips im Radio und Fernsehen, und so war es der fünfunddreißigjährigen Frau gelungen, sich einen stabilen Kundenstamm aufzubauen. Neben den Cremes, Dragées und Gesichtswässern bot Andrea
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