Die Braut im Schnee
Lorenz zugleich auch immer ihre Dienste als Masseurin und Kosmetikerin an. So verdiente sie gut, aber nicht gut genug.
Um den Engpass durch Seckbach zu umfahren, nahm sie den Weg über den Heilsberg, wo sie nach links in die Friedberger Landstraße abbog. Ihre erste Kundin an diesem Tag hieß Gertrud Mahrenholz und wohnte im so genannten Dichterviertel, einer gutbürgerlichen Frankfurter Wohnsiedlung nördlich des Alleenrings. Als Andrea Lorenz endlich einen Parkplatz gefunden hatte und an der Haustür klingelte, wurde ihr sofort geöffnet. Wie immer lief in der riesigen Altbauwohnung der Radioapparat. Gertrud Mahrenholz war Anfang vierzig und hatte große Angst vor dem Älterwerden. Schon deshalb war sie eine gute Kundin. Sie war mit einem erfolgreichen Unternehmensberater verheiratet, der die meiste Zeit auf Reisen war. Dass sie unter ihrer Einsamkeit litt, war nicht zu überhören. Während Andrea ihr die Fußnägel lackierte, redete die Frau unentwegt auf sie ein. Einmal pro Woche ließsie sich ausgiebig behandeln. Auch heute erhielt sie außer der Pediküre eine Schultermassage, bekam eine Gesichtsmaske, ließ sich die Augenbrauen zupfen und die Härchen auf der Oberlippe entfernen.
Als Andrea Lorenz wieder auf der Straße stand, atmete sie durch. Sie schaute auf die Uhr. Es war fast halb zwölf. Wieder hatte ihre Sitzung mit Gertrud Mahrenholz länger gedauert als geplant. Eigentlich hatte sie noch zwei Flaschen Wein für den Abend besorgen wollen, nun würde sie das auf den Nachmittag verschieben müssen. Sie wollte den neuen Kunden auf keinen Fall warten lassen. Er hatte sich bei ihr gemeldet, sich aber am Telefon nicht weiter äußern wollen, welche ihrer Dienste er in Anspruch zu nehmen wünschte. Auch als sie mit ihm über Geld reden wollte, war er ausgewichen. Darauf komme es ihm nicht an, jedenfalls nicht in erster Linie, erst einmal solle man sich kennen lernen, dann werde man sich schon einig. Seine Stimme klang warm und freundlich. Mit der Zeit hatte sie ein Gespür dafür entwickelt, welche Stimmen zu welchem Charakter gehörten. Manchmal täuschte sie sich, aber immer öfter behielt sie mit ihrer Einschätzung Recht. Dass die Haut ein Spiegel der Seele war, wusste sie aus ihrem Beruf. Aber ebenso war es die Stimme eines Menschen.
Sie hatten sich um zwölf Uhr in seiner Wohnung verabredet, und er hatte ihr eine Adresse an der Darmstädter Landstraße genannt. Sie würde sich beeilen müssen, um es noch rechtzeitig zu schaffen. Trotzdem fuhr sie noch den kleinen Schlenker am Lessinggymnasium vorbei, in der Hoffnung, ihren Sohn vielleicht zu sehen. Er hatte heute früher Schulschluss, und wenn sie Glück hatte, würde sie rechtzeitig kommen, um ihn noch kurz zu treffen. Tatsächlich sah sie, wie er gerade mit zwei Freunden zur Bushaltestelle lief. Sie hielt an und ließ die Scheibe herunter.
«Hallo, Johannes», rief sie.
Verwundert schaute er in ihre Richtung, und sofort breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er wechselte die Straßenseite und kam auf ihren Wagen zugelaufen.
«Hallo, Mami, was machst du denn hier?», fragte er.
«Nichts. Ich bin nur zufällig vorbeigekommen und dachte: Vielleicht seh ich dich. Ich muss auch gleich weiter.»
«Das ist super.» Er bückte sich und gab ihr rasch einen Kuss. Dann war er schon wieder bei den anderen. Das, dachte sie, wird auch nicht mehr lange so sein. Bald wird er sich schämen, seiner Mutter in Gegenwart der Freunde einen Kuss zu geben.
Sie wollte gerade wieder losfahren, als ihr Mobiltelefon läutete. Sie meldete sich, ohne ihren Namen zu nennen.
«Ich bin’s», sagte der Mann. «Was halten Sie davon, wenn wir uns statt in meiner Wohnung in den Schwanheimer Dünen treffen?»
«Im Freien?», fragte sie. Während sie telefonierte, sah sie, wie Johannes in den Bus stieg und sich sofort auf einen Fensterplatz setzte, um ihr noch einmal zuzuwinken.
«Ja, das Wetter ist großartig», sagte der Mann. «Warum nicht im Freien? Was spricht dagegen?»
Dagegen sprach, dass sie keine Überraschungen mochte, dass sie gerne vorher wusste, worauf sie sich einließ. Und dass sie so etwas noch nie gemacht hatte. Man traf sich in der Wohnung eines Kunden oder in seinem Hotelzimmer. Und wenn es gewünscht wurde, mietete sie auch ein Zimmer, das der Kunde dann bezahlen musste.
«Nein», sagte sie. «Es muss so bleiben, wie wir es abgesprochen haben.»
Sie war verärgert. Sie hatten diesen Termin gemacht. Und sie hatten den Ort vereinbart. Jetzt
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