Die Braut im Schnee
Behandlungsstuhl sah, schaute er schnell weg.
«Was wird jetzt aus mir?», war Marlene Ohlbaums erste Frage, als sie sich in der Teeküche gegenübersaßen. Marthaler schaute die junge Frau an. Den oberen Teil ihrer blonden Haare hatte sie direkt über der Schädeldecke zu einem Schwänzchen zusammengebunden. Sie sieht aus wie ein Zirkuspferd, dachte er. Ein halb verhungertes Zirkuspferd, das geheult hat.
«Interessiert Sie nicht, was passiert ist?», fragte er.
«Doch», sagte sie, «natürlich. Entschuldigen Sie. Ich habe alle Patienten nach Hause geschickt. Ich wusste nicht, wie ich es erklären soll. Ich habe gesagt, die Ärztin sei krank. Dabei bin ich selbst erkältet.»
«Gabriele Hasler ist tot. Sie wurde ermordet. Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie über sie wissen.»
Sofort begann Marlene Ohlbaum wieder zu weinen. IhrHaarschwänzchen hüpfte. Marthaler reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher. Dann wartete er.
«Ich weiß nichts über sie. Sie war nervös. Ich weiß, dass sie Geldsorgen hatte. Es kamen immer wieder Briefe mit Mahnungen. Das ist alles so furchtbar. Ich hoffe, ich muss sie mir nicht anschauen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen.»
«Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ihr Verlobter hat sie bereits identifiziert.»
«Ihr Verlobter? Davon wusste ich nichts … Ich bin …»
Marthaler unterbrach sie. Weil er nicht schreien wollte, sprach er betont leise: «Was wollten Sie sagen? ‹Ich bin …›? Sind Sie auch verlobt? Wollen Sie mir das jetzt erzählen? Ich, ich, ich. Merken Sie nicht, dass Sie die ganze Zeit nur von sich selbst reden? Ihre Chefin ist ermordet worden. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»
«Ich …» Marlene Ohlbaum schaute ihn unsicher an.
Marthaler nickte ihr aufmunternd zu: «Reden Sie! Sie dürfen ‹ich› sagen, solange Sie meine Fragen beantworten.»
«Ich habe die Praxis nach der Sprechstunde verlassen. Sie hatte noch ein Gespräch mit einem Patienten. Dann bin ich einkaufen gegangen. Am Scheffeleck habe ich sie nochmal gesehen. Sie ist gerade in ein Taxi gestiegen. Ich habe ihr zugewunken. Aber sie hat mich nicht bemerkt.»
Marthaler hob die Hand: «Nicht so schnell. Das alles ist wichtig. Wer war dieser Patient? An welchem Taxistand haben Sie Gabriele Hasler gesehen? Und wann war das? Versuchen Sie, sich so genau wie möglich zu erinnern. Wir müssen den Taxifahrer ermitteln. Und ich muss mit diesem Patienten sprechen.»
Marthaler tastete nach seinem Notizbuch, merkte aber, dass er es vergessen hatte. Aus den Tiefen seines Mantels kramte er ein Stück Papier hervor. Es war die Einladung zu einer Versammlung der Polizeigewerkschaft, die längst ohne ihn stattgefundenhatte. Er drehte das Blatt herum und wartete darauf, sich Notizen machen zu können. Aber die Zahnarzthelferin schaute ihn nur an. Ihr Mund war leicht geöffnet. Ihre Augen wirkten riesig in dem schmalen Gesicht. Die Wimpern begannen zu flattern. Marthaler hatte den Eindruck, dass seine Fragen sie überforderten. Es half nichts, er musste seine Ungeduld zügeln. Er beschloss, der jungen Frau Zeit zu lassen. «Haben Sie verstanden, was ich von Ihnen will?», fragte er schließlich.
Marlene Ohlbaum nickte, machte aber noch immer keine Anstalten zu antworten. Stattdessen bat sie darum, ihre Zigaretten holen zu dürfen. Marthaler schaute ihr nach. Unter dem kurzen weißen Kittel sah er ihre Beine. Sie waren kaum dicker als seine Unterarme. Es kam ihm vor, als drohten sie bei jedem ihrer Schritte zu zerbrechen.
Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis er endlich die nötigen Informationen erhalten hatte. Marlene Ohlbaum hatte die Zahnarztpraxis am gestrigen Nachmittag gegen 16.30 Uhr verlassen. Sie war nach Hause gegangen, hatte sich umgezogen, das saubere Geschirr aus der Spülmaschine geräumt, den Hamster gefüttert und selbst eine Kleinigkeit gegessen. Anschließend hatte sie ihr Apartment noch einmal verlassen, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Gegen achtzehn Uhr hatte sie ihre Chefin vor dem Maingau-Krankenhaus in ein Taxi steigen sehen. Die Zahnarzthelferin erinnerte sich, das Glockenläuten einer nahe gelegenen Kirche gehört zu haben.
Marlene Ohlbaum wirkte erschöpft. «Was soll ich denn jetzt machen?», fragte sie wieder. Marthaler war froh, dass sie keine Antwort zu erwarten schien. Er hatte keinen Rat, den er der jungen Frau geben konnte. Er wusste, dass es nicht leicht für sie sein würde, eine neue Stelle zu finden. Er ließ sich den Namen und
Weitere Kostenlose Bücher