Die Braut im Schnee
geöffnet wurde. Raimund Toller kam herein, und sofort wurde beifälliges Gemurmel laut. Toller trug einen Stapel Pizzakartons auf dem Arm, den er auf dem Tisch absetzte. Hinter ihm betrat Elvira mit einem Tablett den Raum. Sie verteilte Teller und Bestecke. Dann brachte sie zwei Flaschen Sekt und Gläser.
«Was ist los?», fragte Marthaler. «Bislang hatte ich nicht den Eindruck, dass wir heute viel Grund zum Feiern haben.»
«Nein», sagte Toller, «ich habe Geburtstag.»
Rundum standen die Kollegen auf, um ihm zu gratulieren. Nur Kerstin Henschel blieb an ihrem Platz sitzen. Marthaler bemerkte es und schaute sie an. Sie wich seinem Blick aus. Sie bückte sich und kramte in ihrer Tasche. Sie zog einen Stapel Papiere hervor und tat, als würde sie sich auf die Unterlagen konzentrieren.
«Gut», sagte Marthaler, «trotzdem können wir uns keine lange Pause gönnen. Während wir essen, hören wir uns die Aufnahme mit dem Notruf an.»
Manfred Petersen drückte auf den Knopf. Als das Band durchgelaufen war, spulte er es zurück. Sie hörten es sichein zweites und dann auch noch ein drittes Mal an. Erst jetzt schaltete Petersen das Gerät wieder ab.
«Mein lieber Mann», sagte Kai Döring. «Sieht ganz so aus, als hätten wir diesmal eine Zeugin.»
«Oder mehrere Zeugen», sagte Petersen. «Sie sprach von ‹wir›. Das heißt, es war noch mindestens eine andere Person bei ihr.»
«Jedenfalls haben sie jemanden gesehen. Einen Mann, der angeblich schon wieder weg war. Der aber noch nicht weg gewesen sein kann, weil sie ihn sonst gar nicht hätten sehen können.»
«Also?», fragte Marthaler.
«Also», sagte Döring, «ist das die Erklärung, warum das Mädchen seinen Namen nicht genannt und warum es seine Stimme verstellt hat. Die Kleine hat Angst. Wir wissen nicht, was sie gesehen hat, aber so viel steht fest: Sie weiß mehr, als sie sagen wollte. Vor allem weiß sie, dass sie Angst haben muss vor diesem Mann.»
«Das heißt, wir müssen sie finden», sagte Marthaler. «Egal, wie uns das gelingt. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer dieses Mädchen ist. Und wir müssen sie zum Sprechen bringen.»
«Und wie stellst du dir das vor?», fragte Toller. «Der Anruf kam von einem öffentlichen Fernsprecher in Niederrad.»
«Gut», sagte Marthaler, «dann müssen wir unsere Rückschlüsse, wer dieses Mädchen ist, aus anderen Dingen ziehen. Wir werden uns die Aufnahme so lange anhören, bis wir mehr wissen. Und ich bitte euch, diesmal nicht so sehr darauf zu achten, was sie sagt, sondern auf alles andere, auf ihre Stimme, auf die Geräusche, die sonst noch zu hören sind, auf alles, was uns einen Hinweis geben kann.»
Zwei weitere Male ließen sie das Band abspielen. Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann begannen alle durcheinanderzu reden. Von dem Motorengeräusch eines vorüberfahrenden Autos war die Rede, von einem bellenden Hund, von einem Klirren und Klappern.
Marthaler hob beide Hände und wartete, bis Ruhe eingekehrt war. «Nicht alle auf einmal. Gehen wir der Reihe nach. Gibt es etwas, das euch an der Stimme des Mädchens aufgefallen ist?»
«Sie hat so tief gesprochen, wie sie nur konnte. Sie hat versucht, wie eine Frau zu klingen.»
«Ja, aber da ist noch etwas. Man hört es schon bei ihren ersten Sätzen. Manfred, spiel uns den Anfang bitte nochmal vor.»
Sie lauschten aufmerksam. «Sie müssen kommen. Da liegt eine Frau im Sand. Sie ist tot», hörten sie das Mädchen sagen. Kerstin Henschel meldete sich als Erste zu Wort.
«Sie hat einen kleinen Sprachfehler. Sie lispelt.»
«Stimmt», sagte Sven Liebmann. «Und wenn ihr mich fragt, hört es sich an, als würde sie eine Klammer tragen.»
«Das ist es, was ich auch sofort gedacht habe. Eine Zahnspange. Machen wir weiter. Was noch? Ist sonst noch jemandem etwas aufgefallen?»
«Während des Telefonats ist ein Auto vorübergekommen. Man hat das Geräusch eines Motors gehört, das kurz darauf wieder verschwunden war.»
«Gut», sagte Marthaler. «Aber das wird uns nicht viel helfen. Also weiter. Habt ihr bemerkt: Als unser Mann in der Zentrale sie das erste Mal nach ihrem Namen fragt, schweigt sie. Es entsteht eine kurze Pause in dem Gespräch. Aber man hört etwas im Hintergrund. Man hört das Geklapper von Flaschen. Jemand schiebt Getränkekästen hin und her. Vielleicht hat diese Person das Mädchen mit der Zahnspange gesehen. Es wäre immerhin möglich.»
«Und der Hund», sagte Kai Döring. «Man hört ihn eineganze
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