Die Braut im Schnee
die Adresse des Patienten geben, mit dem die Zahnärztin zuletzt gesprochen hatte. Dann verabschiedete er sich.
«Danke, dass Sie Geduld mit mir hatten», sagte die junge Frau und streckte ihm ihre schmale Hand entgegen. Ihr Händedruck kam Marthaler erstaunlich fest vor. Er fühlte sich beschämt. Wenn ihn etwas kennzeichnete, dann war es seine Ungeduld mit anderen Menschen.
Er stand bereits im Hausflur, als ihm noch etwas einfiel. «Gibt es hier zufällig ein Foto von Gabriele Hasler?», fragte er. Marlene Ohlbaum überlegte. «Ja», sagte sie. «Im Frühjahr ist in der Zeitung ein Artikel über sie erschienen. Sie hat ihn mir ganz stolz gezeigt und mich gebeten, ihn abzuheften.»
Sie verschwand im Nebenraum. Kurz darauf kam sie wieder und reichte ihm den aufgeklebten Zeitungsausschnitt. Der Artikel gehörte zu einer Serie mit dem Titel «Wege in die Selbständigkeit». Neben dem Text war das Porträt einer lachenden Frau abgebildet. Sie ist sehr hübsch gewesen, dachte Marthaler. Hübsch und selbstbewusst, trotzdem sieht man ihr an, dass sie Sorgen hat. Er versuchte, den Bericht zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Er faltete das Blatt zusammen und steckte es in seine Brieftasche.
Als er das Haus verließ und auf den Kleinen Friedberger Platz trat, schaute er zum ersten Mal seit Stunden wieder auf die Uhr. Es war 14.50 Uhr. Marthaler erstarrte.
Vor einer halben Stunde hätte er am Flughafen sein sollen. Er hatte Tereza fest versprochen, sie abzuholen. Und noch am Morgen hatte er seiner Sekretärin versichert, dass er es ganz gewiss nicht vergessen werde. Hilflos drehte er sich um die eigene Achse. Er wusste nicht, was er tun sollte. Am liebsten hätte er einen der Passanten, die mit ihm an der Fußgängerampel standen, angeschrien. Während er Terezas Nummer in sein Mobiltelefon tippte, suchte er nach einer Ausrede. Und sofort begann er sich zu schämen. Er fühlte sich wie ein Kind, das etwas ausgefressen hatte. Er hatte sich auf Tereza gefreut, wie er sich seit langem auf nichts mehr gefreut hatte. Und nunhatte er sie einfach vergessen. Doch damit nicht genug, jetzt war er auch noch nahe daran, sie zu belügen.
Er ließ es lange klingeln, aber niemand meldete sich. Nach dem dritten Versuch gab er auf. Er überlegte, was Tereza jetzt wohl machen würde. Vielleicht hatte sie sich von einem Taxi in den Großen Hasenpfad fahren lassen und wartete vor seiner Wohnungstür. Aber warum ging sie nicht ans Telefon? Warum hatte sie nicht versucht, ihn anzurufen? Darauf gab es nur eine Antwort: Sie wollte nicht mit ihm sprechen. Sie war böse auf ihn. Und sie wollte nicht, dass er wusste, wo sie war.
Schließlich wählte er Elviras Nummer im Präsidium. «Hat sich Tereza gemeldet?», fragte er.
«Nein. Wieso? Habt ihr euch denn nicht am Flughafen getroffen? Die Maschine muss doch längst gelandet sein.»
«Ja … Vielleicht … Ich weiß nicht.»
Elvira schwieg einen Moment. Dann hatte sie verstanden. «Robert, nein. Sag, dass das nicht wahr ist. Du hast sie nicht etwa vergessen, oder?»
Er nickte stumm. Dann ließ er sein Handy in die Manteltasche gleiten. Sein Kopf sank auf die Brust. Er merkte, wie ihn jede Kraft verließ. Es gab nichts, was er tun konnte. Er musste warten, bis Tereza sich von selbst wieder meldete. Wenn sie sich überhaupt wieder melden würde.
Zwanzig Minuten später betrat Marthaler zum zweiten Mal an diesem Tag das neue Präsidium. Ohne aufzuschauen, nickte er dem Pförtner zu, passierte die Schranke, ging zu den Aufzügen und fuhr in den zweiten Stock. Seine Anspannung war so groß, dass sich seine Nackenmuskulatur verkrampft hatte. Ein stechender Schmerz zog von den Schultern in den Hinterkopf und kroch ihm den Nacken hoch.
Als Marthaler die gläserne Tür zum Flur der Mordkommission geöffnet und entdeckt hatte, was geschehen war, bekamer einen Lachanfall. Elvira kniete auf dem Boden, neben ihr standen drei Eimer. In den Händen hielt sie ein Wischtuch, das sie über einem der Eimer auswrang. Der gesamte Gang und alle Räume standen unter Wasser.
Die Tür zu Herrmanns Büro war geöffnet. Der Leiter der Mordkommission stand barfuß und mit aufgekrempelten Hosenbeinen neben seinem Schreibtisch und brüllte ins Telefon. Als er Marthaler sah, winkte er ihn zu sich. Er knallte den Hörer auf und brüllte weiter: «Sehen Sie nicht, was hier los ist. Ich möchte wissen, was es da zu grinsen gibt. Ziehen Sie sich gefälligst Schuhe und Strümpfe aus und fassen Sie
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