Die Braut im Schnee
schaute ihn mit ihrem leeren Lächeln an: «Mein Mann ist ein Würstchen. Er ist herrisch, er ist gemein, er quält alle, die mit ihm zu tun haben. Und er interessiert sich nur für sich selbst. Aber er ist ein Würstchen. Und ein hervorragender Mediziner, wie man mir immer wieder sagt.»
«Ihr Mann hat mich belogen. Er hat gesagt, er habe Gabriele Hasler gerade so gut gekannt, wie ein Professor seine Studentinnen eben kennt. Das war eine Lüge.»
«Nein. Er hat mit Gabriele Hasler geschlafen, wie er mit so vielen anderen seiner Studentinnen geschlafen hat. Das ist das normale Verhältnis, das er zu ihnen unterhält. Deshalb war sein Satz keine Lüge. Sie haben ihn nur falsch verstanden. Er tut sich an seinen Studentinnen gütlich. Und wenn er genug von ihnen hat, vergisst er sie einfach. Aber er bringt sie nicht um.»
«Und Sie stört das nicht? Ihnen genügt es, die Fassade einer Ehe aufrechtzuerhalten, die schon lange keine mehr ist?»
«Ach Gottchen, ja. Mit so einer Frage hätte ich rechnen müssen. Aber Sie täuschen sich. Es gibt keine Fassade. Wenn er von einem seiner Mädchen nach Hause kommt, ist er zwar noch immer kein guter Mensch, aber er ist weniger herrisch, weniger gemein. Jedenfalls für ein paar Stunden.»
«Trotzdem möchte ich wissen, wo er war.»
Wieder schwieg sie lange. «Hören Sie, mein Herr, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe. Ihre Fragen langweilen mich zu Tode. Es sind die Fragen eines Beamten mit einer Beamtenseele. Ich weiß nicht, wo er war. Genauso wenig, wie er weiß, wo ich war.»
Marthaler glaubte nicht daran, dass sie meinte, was sie sagte. Es waren Sätze, die vielleicht zu ihrem Mann passten, aber nicht zu ihr. Ihr Hochmut war antrainiert. Sie wollte den Kriminalpolizisten spüren lassen, dass er für sie nicht mehr war als ein Hofnarr, von dessen Anwesenheit sie sich ein wenig Abwechslung versprochen, der sie aber enttäuscht hatte und ihr deshalb bereits wieder lästig war. Doch nichts davon stimmte. Sie war eine verzweifelte Frau, und sie tat Marthaler Leid. Auch wenn sie sich dieses Mitleid sicher verbeten hätte.
Trotzdem hatte sie wahrscheinlich Recht. Professor Wagenknecht war kein Mörder. Marthaler hatte einen Moment lang geglaubt, in ihm einen Verdächtigen ausmachen zukönnen. Sie würden seine Alibis überprüfen müssen, aber es gab keinen Grund, das Bild, das seine Frau von ihm gezeichnet hatte, zu bezweifeln.
Marthaler stand von seinem Sessel auf. Er verabschiedete sich, aber sie hatte die Augen bereits wieder geschlossen. Sie reagierte nicht auf seinen Gruß. Sie hielt den Stiel ihres Sektglases zwischen Daumen und Zeigefinger. Er sah, dass ihre Hand ein wenig zitterte.
Marthaler stand auf der Straße. Er drehte sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Haus.
Er hatte sich getäuscht. Auch in diesem Viertel war das Unglück zu Hause.
«Komm bitte her», sagte Walter Schilling am Telefon. «Wir sind in Bockenheim, in der Wohnung von Gabriele Hasler. Aber wir waren nicht die Ersten. Es war schon jemand hier.»
«Was meinst du?», fragte Marthaler. «Wer war dort? Ich habe keine Zeit. Sag mir einfach, was los ist.»
«Nein, Robert, bitte. Man kann es nicht erklären. Du musst dir das ansehen.»
Marthaler beeilte sich. Das sechsstöckige Haus befand sich mitten im alten Universitätsviertel, direkt an einem Platz, der vor nicht allzu langer Zeit nach dem Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno benannt worden war.
Marthaler hatte Mühe, einen Parkplatz zu finden. Er war nervös. Die Ankündigung Walter Schillings ließ ihn nichts Gutes ahnen.
Mehrmals umkreiste er das Gebiet, das sich südlich der Adalbertstraße zu einem Dreieck fügte, dessen Spitze auf das Messegelände zulief. Endlich hatte er Glück. Vor ihm stieg jemand in sein Auto und machte einen Platz am Straßenrand frei. Als Marthaler den Rückwärtsgang eingelegt hatte und gerade zurückstoßen wollte, sah er im Spiegel, wie sich vonhinten rasch ein dunkelblauer VW Golf näherte, im letzten Moment blinkte und in die Parklücke fuhr.
Marthaler stieg aus. Er ließ den Daimler mit laufendem Motor mitten auf der Straße stehen. Er ging zu dem Golf und riss die Fahrertür auf. Sofort kam ihm der Geruch einer Marihuana-Zigarette entgegen. Der junge Fahrer trug einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd. Er wirkte darin wie verkleidet. Marthaler schätzte, dass der Mann vielleicht halb so alt war wie er selbst.
«Mach den Platz frei. Sofort!», sagte
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