Die Braut im Schnee
einmal anzuschauen. Zwei Schritte weiter wurde sein Blick nach rechts gelenkt. Dort hing ein großer Spiegel. Auch der wurde von einem kleinen Spot beleuchtet. Aber da, wo ihn eigentlich sein Spiegelbild hätte anschauen müssen, sah Marthaler erneut in das Gesicht Gabriele Haslers. Auf diesem Foto lebte sie noch. Ihre Augen waren vor Angst geweitet,ihre Mundwinkel heruntergezogen. Um ihren Hals war ein Strick befestigt. Sie wirkte gehetzt. Kopfschüttelnd wandte sich Marthaler ab.
«Vorsicht», sagte Schilling, «pass auf, wo du hintrittst.»
Überall auf dem Boden lagen Fotos, die der Täter im Haus der Zahnärztin aufgenommen hatte. Manche zeigten sie in unterschiedlichen Verkleidungen, auf anderen war sie nackt. Es schien, als habe er den gesamten Tathergang dokumentiert und hier in dieser Wohnung zu einer makabren Ausstellung arrangiert.
«Meinst du, das könnte darauf hinweisen, dass es sich doch um den Fotografen handelt? Dass Helmut Drewitz doch der Täter ist?»
«Nein», erwiderte Schilling, «eher im Gegenteil. Jedes dieser Bilder wurde von einem Amateur mit einer billigen Digitalkamera gemacht. Ein Profi, selbst wenn er wollte, könnte niemals so schlechte Bildausschnitte wählen. Hier war jemand am Werk, der nichts von Fotografie versteht. Die Bilder wurden auf den Computer geladen und hinterher mit einem einfachen Farbdrucker ausgeworfen.»
Marthaler warf einen Blick in die beiden Wohnräume. Überall sah es gleich aus. Die Rollläden waren heruntergelassen worden. Stattdessen wurden die Zimmer von kleinen Lämpchen beleuchtet.
«In jedem Raum lässt sich das Licht über Dimmer regulieren», sagte Schilling. «Als wir kamen, war es genauso dunkel wie jetzt.»
Selbst im Bad und in der kleinen Küchennische waren auf dem Boden und an den Wänden die Aufnahmen mit dem Gesicht und dem Körper der Zahnärztin verteilt worden. Manche der Fotos waren klein, andere hatten das Format eines Briefbogens.
«Ich habe genug gesehen», sagte Marthaler. «Ich muss hierraus. Wir müssen das analysieren. Aber nicht hier. Lass uns bitte auf die Straße gehen.»
Als sie ins Treppenhaus kamen, warteten dort bereits die beiden Mitarbeiter von Walter Schilling.
Marthaler nickte ihnen zu und beeilte sich, ins Freie zu kommen. Er überquerte die Straße und steuerte auf den Platz zu. Dort setzte er sich auf eine der Bänke unter einen Baum und wartete auf Schilling.
«Was kannst du mir dazu sagen, Walter? Ich bin hilflos. Was geht in einem Menschen vor, der so etwas tut?»
«Da fragst du den Falschen. Aber ich kann dir sagen, dass er ein reinlicher Mensch ist. Wir haben zwar noch keine Zeit gehabt, die Wohnung genau zu untersuchen, aber ich fürchte, wir werden auch diesmal nichts finden. Dass er mit Handschuhen arbeitet, ist sicher. Aber darüber hinaus hat er offensichtlich auch noch alles geputzt und gesaugt. Der Staubsaugerbeutel ist übrigens verschwunden. Den dürfte er mitgenommen haben.»
«Das heißt, er hat alle Spuren beseitigt und gleichzeitig neue gelegt», sagte Marthaler.
«So sehe ich es auch. Wir sollen nicht wissen, wer er ist. Trotzdem scheint er uns etwas über sich sagen zu wollen.»
«Er hat also von dieser Wohnung gewusst. Wahrscheinlich war er schon früher hier. Wahrscheinlich war er einer ihrer Freier. Den Schlüssel dürfte er in der Nacht an sich gebracht haben, als er Gabriele Hasler erdrosselt hat. Aber warum hat er diese Fotos hier verteilt? Er musste damit rechnen, dass wir die Wohnung früher oder später finden.»
«Ich nehme sogar an, dass er das wollte. Anders kann ich es nicht verstehen. Aber ich weiß nicht, was das heißt.»
«Meinst du, er war nach ihrem Tod noch häufiger hier? Meinst du, er ist hierher gegangen wie in ein kleines Museum, um immer wieder seine Tat auszukosten?»
«Das könnte gut sein. Hast du die kleinen Teelichte gesehen, die überall herumstanden? Ich nehme an, dass er die angezündet hat, wenn er in der Wohnung war. Die Lampen hatte er nur für uns eingeschaltet.»
«Aber er musste damit rechnen, gesehen zu werden. Einer der Mieter könnte ihn wiedererkennen.»
«Ach, weißt du», sagte Schilling, «seit wir hier sind, sind so viele Leute durchs Treppenhaus gekommen, und es hat uns keiner gefragt, was wir hier zu suchen haben. Selbst dass wir die Tür aufgebrochen haben, schien niemanden zu wundern.»
Marthaler nickte. «Vielleicht ist es so, wie damals einer der Nachbarn von Helmut Drewitz in Oberrad gesagt hat. Wahrscheinlich ist auch dies kein
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