Die Braut im Schnee
Mühe, ihre Prüfungen zu schaffen. Und auch als Zahnärztin war sie wohl nicht sehr erfolgreich. Trotzdem sei sie anfangs ein fröhlicher Mensch gewesen. Am Ende war sie verbittert, verschlossen und nervös, sagt ihre Freundin.»
«Wusste Stefanie Wolfram davon, dass ihre Freundin verlobt war?», fragte Marthaler.
«Nein», sagte Kerstin Henschel. «Sie hatte keine Ahnung. Sie war so erstaunt darüber, dass sie zunächst meinte, wir müssten uns irren. Und je mehr wir über Gabriele Hasler erfahren, desto mehr bin ich ebenfalls über diesen Umstand erstaunt. Mir kommt es so vor, als sei diese Verlobung auch nur eine Form der Prostitution gewesen.»
«Kerstin, bitte», erwiderte Sven Liebmann. «Eine Verlobung spricht doch eher für das Gegenteil. Vielleicht hat sie gehofft, endlich vor Anker gehen zu können. Vielleicht wollte sie raus aus ihrem Doppelleben.»
«Mag sein, dass ihr das Ganze zu heiß wurde. Aber nach allem, was wir von ihrem Verlobten erfahren haben, glaube ichnicht, dass sie ihn geliebt hat. Ich glaube, dass sie an seinem Geld interessiert war. Ich glaube, dass sie in ihm eine Art bequemen Freier gesehen hat. Vielleicht einen, der die anderen irgendwann überflüssig gemacht hätte.»
Marthaler nickte. All diese Gedanken waren wichtig, trotzdem hatte er Angst, dass sie sich verzettelten.
«Wie es jetzt aussieht, müssen wir uns mit ihrem zweiten Leben beschäftigen. Wir müssen davon ausgehen, dass ihr Mörder etwas mit ihrer Nebentätigkeit als Prostituierte zu tun hat. Und die Frage ist, wie passt das mit dem Mord an Andrea Lorenz zusammen. Es muss einen Punkt geben, wo die beiden Fälle sich kreuzen.»
«Robert, dann sprich bitte aus, was du denkst», forderte Kai Döring ihn auf.
«Wie meinst du das?», fragte Marthaler.
«Du gehst davon aus, dass Andrea Lorenz sich ebenfalls ein Zubrot als Hure verdient hat und dass wir es mit einem Täter zu tun haben, der es auf solche Frauen abgesehen hat.»
Marthaler zögerte noch einen Moment. Schließlich nickte er. «Ja, ich wüsste nicht, was ich sonst denken soll.»
Die anderen reagierten mit Erleichterung. Es schien, als hätten alle nur darauf gewartet, dass endlich jemand aussprach, was sie seit Stunden dachten, seit sie zum ersten Mal vom Doppelleben Gabriele Haslers gehört hatten.
«Jedenfalls würde das den geheimnisvollen Termin gestern Mittag erklären, der im Kalender von Andrea Lorenz verzeichnet war. Dieses Treffen in der Darmstädter Landstraße, das wir uns nicht erklären konnten und das dann in den Schwanheimer Dünen tödlich für sie endete», sagte Kerstin Henschel.
«Dann müsste es aber noch weitere solcher Eintragungen in dem Notizbuch geben», sagte Sven Liebmann.
«Die gibt es auch», erwiderte Kerstin Henschel. «Einigeder Verabredungen, die sie getroffen hat, sind mit einem kleinen Kreuzchen markiert. Wir wussten bislang nicht, was das zu bedeuten hat. Und wir hatten auch noch keine Zeit, es zu überprüfen. Aber ich denke, wir sollten das schleunigst nachholen.»
Die Erkenntnis, die sie gerade gewonnen hatten, war ein Durchbruch. Jetzt mussten sie sich schnell darüber klar werden, welche Folgen sie für ihre Ermittlungen hatte. Immerhin war das Profil des Täters nicht mehr ganz so vage wie noch einen Tag zuvor. Es gab ein Umfeld, in dem er sich bewegte. Es gab ein Muster, nach dem er handelte, und sie waren kurz davor, es zu durchschauen.
Plötzlich stand Marthaler auf. «Entschuldigt, mir ist etwas eingefallen. Ich muss kurz telefonieren. Walter, bitte sei so gut und berichte den anderen in der Zwischenzeit, was wir in der Wohnung in Bockenheim vorgefunden haben.»
Er ging in sein Büro und wählte die Nummer des Zentrums der Rechtsmedizin, aber es meldete sich niemand. Er wollte gerade auflegen, als Thea Hollmann endlich den Hörer abnahm.
«Da hast du aber Glück. Ich war schon fast auf dem Nachhauseweg. Ich hatte nämlich nicht vor, eine zweite Nachtschicht einzulegen.»
«Deshalb rufe ich an», sagte Marthaler. «Ich wollte fragen, wann wir mit deinen Ergebnissen rechnen können.»
«Robert, bitte, sag, dass das nicht wahr ist. Ich habe bereits am späten Vormittag einen Fahrradboten mit meinem Bericht zu euch geschickt. Du solltest ihn längst vorliegen haben.»
Marthaler sah den Stapel mit Unterlagen durch, der sich im Laufe des Tages auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte. Den Zettel mit der Notiz von Carlos Sabato legte er beiseite. Dann fand er den schmalen Ordner aus der Rechtsmedizin.
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