Die Braut im Schnee
Handy in der Innentasche.
Als er sich von seinem Großvater verabschieden wollte, war der schon wieder eingeschlafen. Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloss, dann ging er in den Keller, um sein Fahrrad zu holen. Er verließ das Haus über den Hinterausgang, umrundete zweimal den Block und klingelte dann bei der Nachbarin. Er gab ihr den Schlüssel und erzählte, dass er in einer dringenden Angelegenheit verreisen müsse und dass seine Cousine den Schlüssel später abholen werde.
Die dicke Frau hob die Brauen und lächelte: «Was hat mein kleiner Schatz denn für dringende Angelegenheiten?»
Tobi wurde verlegen. Er wusste keine Antwort. Die Frau strich ihm übers Haar und sagte: «Na, lass mal gut sein, mein Kleiner, das kriegen wir schon hin.»
Tobi setzte sich auf sein Rad und fuhr los. Er hatte keine Ahnung, wo er hinwollte. Er bog ab auf die Mainzer Landstraße, fuhr über Griesheim nach Nied und immer weiter Richtung Westen. Er schaute sich nicht um. Er fuhr einfach geradeaus. Er fuhr, so schnell er konnte.
Gegen Abend trafen sie sich im Weißen Haus. Seit gestern, seit sie die Leiche von Andrea Lorenz in den Schwanheimer Dünen gefunden hatten, war alles in Bewegung geraten. Alle arbeiteten ohne Pause. Es kam auf jede Minute an. Je mehr Zeit verstrich, desto mühsamer würden ihre Ermittlungen wieder werden. Und desto größer wäre der Vorsprung des Täters.
Obwohl alle erschöpft waren, dachte keiner daran, Feierabend zu machen. Sie wussten, dass ihnen eine lange Sitzung bevorstand, um ihre Arbeit zu koordinieren.
Als Erster meldete sich Carlos Sabato zu Wort. Er bat darum, sofort wieder zurück in sein Kellerlabor gehen zu dürfen. «Ich kann euch noch nichts sagen. Walter Schilling und seine Leute haben mal wieder alles eingesammelt, was sie draußenim Naturschutzgebiet gefunden haben. Wir werden Tage damit zubringen, das Material zu sichten und die Spuren auszuwerten. Ob eine der zahllosen Zigarettenkippen, eines der Kaugummipapiere oder eines der Haare, die wir jetzt in unseren Tüten im Labor haben, auf den Täter hinweisen, wissen wir noch nicht. Wir werden alles, was wir gestern gefunden haben, mit den Spuren vom ersten Tatort vergleichen müssen. Immerhin gibt es jetzt eine Chance, dass wir eine Entsprechung finden. Auch wenn uns das immer noch nicht sagt, wer der Täter ist, hätten wir dann den Beweis, dass er beide Morde begangen hat. Und ihr wisst, wie wichtig so etwas vor Gericht sein kann, wenn wir kein Geständnis bekommen. Macht ihr also eure Sitzung, ich wühle derweil weiter im Dreck. Sobald ich etwas habe, rühre ich mich.»
Sabato war bereits aufgestanden und zur Tür gegangen. Marthaler rief ihn noch einmal zurück: «Denkst du noch daran, um was ich dich gebeten hatte?»
Sabato verdrehte die Augen. «Seit Stunden liegt auf deinem Schreibtisch ein Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer. Der Typ soll eine Koryphäe sein, ein Fachmann für Sadismus.»
Marthaler bedankte sich. Dann forderte er Kerstin Henschel und Kai Döring auf, zu berichten, was die weitere Befragung von Stefanie Wolfram erbracht hatte. Kerstin packte einen Stapel dicht beschriebener Seiten auf den Tisch: das Protokoll der Vernehmung. Sie sprach lange. Zwischendurch unterbrach Kai Döring sie immer mal wieder, um den ein oder anderen Umstand zu ergänzen.
Am Ende ihrer Rede wirkte Kerstin Henschel resigniert. «Wir haben mehrere Stunden mit Stefanie Wolfram gesprochen. Aber auch sie hatte in den letzten Jahren nur noch wenig Kontakt zu Gabriele Hasler. Wir wissen jetzt, dass diese bereits zu Beginn ihres Studiums Geldprobleme hatte. Die Vermutungliegt nahe, dass sie bei irgendeiner Form von Glücksspiel immer wieder große Summen verloren und dass sie sich deshalb prostituiert hat. Über beides haben wir bisher so gut wie nichts in Erfahrung bringen können. Jedenfalls steht fest, dass sie ein Doppelleben geführt hat: In dem einen Leben war sie Studentin und später Zahnärztin, in dem anderen Leben war sie Spielerin und Prostituierte. Sie hat versucht, diese beiden Bereiche sorgsam voneinander abzuschotten. Das scheint ihr allerdings nur äußerlich gelungen zu sein.»
«Was meinst du damit?», fragte Sven Liebmann. Kerstin Henschel sah sich Hilfe suchend nach Kai Döring um, der jetzt versuchte, den Satz zu erklären.
«‹Ihr zweites Leben hat ihr erstes vergiftet.› So hat es jedenfalls Stefanie Wolfram ausgedrückt. Gabriele Hasler war nie eine besonders gute Studentin. Sie hatte
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