Die Braut im Schnee
«Entschuldige, Thea, du hast Recht. Ich war den ganzen Tagunterwegs. Aber wenn ich schon mit dir spreche, kannst du mir vielleicht eine Kurzfassung geben. Wir sind mitten in einer Sitzung, und ich wäre froh, nicht die ganze Akte durchlesen zu müssen.»
Thea Hollmann stöhnte. «Gut. Aber wirklich ganz kurz. Ich habe dir ja erzählt …»
«Was hast du mir erzählt?» Dann fiel es ihm ein. Er lachte. «Stimmt. Du bist zum Essen eingeladen. Du willst Füchsel besuchen. War es nicht so?!»
«Ja», sagte sie, «und es wird mich niemand davon abhalten. Also: Es ist so, wie ich gesagt habe. Andrea Lorenz wurde auf dieselbe Weise umgebracht wie Gabriele Hasler. Es gibt Spuren von Fesselungen und zahlreiche Male der Drosselungen. Der Täter hat sie gequält. Trotzdem war etwas anders. Erinnerst du dich noch, was ich dir am Tatort gesagt habe?»
«Ja, du hast gesagt, es sei exakt die gleiche Scheiße wie im ersten Fall.»
«Und das war etwas voreilig von mir. Die Verletzungen, die er dieser Frau beigebracht hat, wirken rabiater. Es sieht so aus, als habe er sie mit einem Stock, einer Art Rute, vielleicht mit einem Ast geschlagen. Als habe er sie züchtigen wollen. Das Ganze wirkt auf mich, als habe er weniger kontrolliert gehandelt, als sei er außer Rand und Band gewesen.»
«Kannst du daraus einen Schluss ziehen?», fragte er.
«Es ist zwar schwer zu fassen, aber auf mich macht es den Eindruck, als müsse er seine Brutalität noch steigern.»
«Du meinst, er verliert die Kontrolle über sich.»
«Ja», sagte sie, «etwas in der Art … Trotzdem, Robert, entschuldige, ich muss jetzt los. Es gibt Lammkeule mit grünen Bohnen. Füchsel hat darum gebeten, dass ich pünktlich bin.»
«Ja», sagte Marthaler. «Und es wäre schade, wenn das Fleisch trocken würde.»
Er kehrte zurück ins Sitzungszimmer und wartete, bis WalterSchilling mit seinem Bericht fertig war. Dann meldete er sich zu Wort. «Fangen wir noch einmal da an, wo wir gestern aufgehört haben. Fragen wir noch einmal nach den Gemeinsamkeiten der beiden Morde und der beiden Opfer. Aber auch nach den Unterschieden.»
«Wenn es stimmt», sagte Kai Döring, «wenn beide Frauen sich prostituiert haben, dann müssen wir herausfinden, wie sie an ihre Kunden gekommen sind. Irgendwo müssen sie ihre Dienste angeboten haben. Der Täter musste die Möglichkeit haben, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Entweder haben sie Anzeigen geschaltet, oder er hat ihre Namen über Mund-zu-Mund-Propaganda erfahren. Vielleicht auch aus dem Internet. Ich würde vorschlagen, dass wir noch einmal die Kollegen von der Sitte um Hilfe bitten.»
«Ja», sagte Marthaler, «dann bitte ich dich, das zu tun. Gleich morgen früh.»
«Vielleicht ist es dafür noch zu früh. Vielleicht heißt es noch nichts. Aber es ist doch auffällig, dass er nicht irgendwelche Prostituierte umgebracht hat, sondern zwei Frauen, die das als Nebenerwerb betrieben haben. Auch Andrea Lorenz hatte eine bürgerliche Existenz, auch sie führte ein Doppelleben.»
«Hat eigentlich inzwischen jemand den Mann von Andrea Lorenz befragt?»
Sven Liebmann nickte. Aber er sagte nichts.
«Und?», fragte Marthaler. «Was hattest du für einen Eindruck?»
«Frag mich nicht», sagte Liebmann und strich sich übers Gesicht. «Es war grauenhaft. Der Mann ist am Ende. Er war nur noch ein Häufchen Elend. Das Haus, die Einrichtung, die Fotos, die im Wohnzimmerregal standen – all das wirkte, als hätten die beiden eine ganz und gar glückliche Ehe geführt. Roland und Andrea Lorenz wollten am Abend ihren Hochzeitstag feiern.»
«Sie wollten was? Das ist nicht dein Ernst!?»
«Ja. Er hatte bereits gekocht. Aber was ist daran seltsam? Warum wunderst du dich darüber?»
«Andrea Lorenz wurde an ihrem Hochzeitstag ermordet. Und Gabriele Hasler ist in der Nacht zu ihrem Geburtstag umgebracht worden. Glaubt ihr wirklich, das ist ein Zufall?»
Zehn Minuten lang debattierten sie über diese Frage. Die Meinungen waren zunächst geteilt. Niemand hatte eine Idee, woher der Täter von den beiden Terminen gewusst haben könnte. Trotzdem blieb es unwahrscheinlich, dass es sich um einen Zufall handelte.
Kerstin Henschel fasste schließlich das Ergebnis ihrer Diskussion zusammen: «Die Ermordung Gabriele Haslers an ihrem Geburtstag könnte ein Zufall gewesen sein. Der Mord an Andrea Lorenz an ihrem Hochzeitstag ebenso. Da wir aber davon ausgehen, dass beide Verbrechen von demselben Täter begangen wurden, steckt wahrscheinlich
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