Die Braut im Schnee
den Täter gesagt hat.»
Marthaler versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. Er merkte, dass es ihm von Minute zu Minute schwerer fiel, sich zu konzentrieren. «Sie sagte, der Mörder sei diesmal rabiater vorgegangen, weniger kontrolliert, so, als sei er außer Rand und Band.»
Schilling nickte. «Das ist genau mein Eindruck. Der Boden am Tatort war an mehreren Stellen regelrecht aufgewühlt. Von einigen Bäumen wurden Äste abgerissen. Auch in dem Haus in Oberrad gab es Kampfspuren. Aber dort draußen in den Schwanheimer Dünen war etwas anders. Dort hat jemand gewütet.»
«Das heißt, dass in dem Täter eine Veränderung vorgeht», sagte Sven Liebmann. «Sein Druck wächst. Das heißt vielleicht auch, dass wir uns beeilen müssen, ehe er wieder zuschlägt.»
«Ja», sagte Marthaler, «wir stehen unter Zeitdruck. Trotzdem sollten wir jetzt alle schlafen gehen, damit wir morgen wieder Kraft haben.»
NEUN
Marthaler schloss seine Wohnungstür auf. Aus dem Wohnzimmer drang Musik. Tereza lag auf der Couch und schlief. Im C D-Spieler lief das Larghetto aus Prokofjews Fünftem Klavierkonzert. Der Tisch war gedeckt; sie hatte gekocht und auf ihn gewartet. Irgendwann war sie eingeschlafen. Neben ihr stand ein Glas Wein, das noch halb gefüllt war. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, lag auf dem Boden. Es war ein Band mit den Erzählungen Bohumil Hrabals. Er holte eine Wolldecke und legte sie über Tereza. Dann zog er sich aus, ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen, und legte sich in sein Bett.
Als er am Morgen aufwachte und auf die Uhr sah, bekam er einen Schrecken. Es war bereits nach halb neun. Er hatte verschlafen. Er war so müde gewesen, dass er vergessen hatte, den Wecker zu stellen. Tereza hatte die Wohnung bereits verlassen. Sie hatte Kaffee gekocht und einen Zettel neben die Thermoskanne gelegt: «Habe auf dich gewartet. Liebe dich trotzdem. Kuss Tereza».
Im Stehen trank er eine Tasse Kaffee. Dann duschte er und zog sich an. Er holte sein Rad aus dem Keller und fuhr ins Nordend. In der Rohrbachstraße hielt er vor der kleinen Bäckerei, in der seine Kollegen und er längst Stammkunden waren. Harry schaute aus der Backstube in den kleinen Verkaufsraum und nickte ihm zu. Marthaler kaufte zwei Maisbrötchen und ein Milchhörnchen, dann fuhr er ins Weiße Haus.
Als er den Treppenflur betrat, kam ihm Sabato entgegen und schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr. «Na endlich», sagte der Kriminaltechniker, «wird aber auch Zeit, dassder Herr Hauptkommissar anfängt zu arbeiten. Du kannst gleich mit in den Keller kommen. Du musst dir etwas anschauen. Ich finde es übrigens nett, dass du dran gedacht hast, mir Frühstück mitzubringen.»
«Carlos, entschuldige, aber ich bin hungrig wie ein Bär. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe …»
Sie hatten die Tür zum Labor erreicht, als Sabato sich zu Marthaler umdrehte, den Zeigefinger hob und ihn angrinste: «Ein Scherz, Robert! Es war mal wieder ein Scherz! Ich habe bereits gefrühstückt. Ich bin satt und zufrieden. Und du darfst alles alleine aufessen. Aber vorher schaust du dir an, was ich entdeckt habe.»
Sabato nahm sein dickes Schlüsselbund, ging zu einem der grauen Metallschränke und öffnete ihn. Er zog einen grünen Plastikcontainer hervor und stellte ihn auf den Labortisch. Die Kiste war gefüllt mit den kleinen Plastiktüten, in denen die Kollegen der Spurensicherung ihre Fundstücke aufbewahrten. Jede der Tüten war mit einem Aufkleber versehen, auf dem die wichtigsten Angaben zum Fundort verzeichnet waren.
Sabato nahm eine Pinzette, öffnete einen der Beutel und zog etwas daraus hervor.
«Erinnerst du dich, dass wir in Oberrad etwas gefunden haben, das wir nicht sofort zuordnen konnten. Gabriele Hasler hatte ein Stück Stoff in der Hand, das wir für den Teil einer Gardine hielten. Später hat sich herausgestellt, dass es ein Brautschleier war. Und nun sieh dir das an! Und rate, was es ist.»
Marthaler starrte auf das schmutzige Gewebe, das Sabato vor seinen Augen in die Höhe hielt. «Ein Brautschleier», sagte er. «Es ist wieder ein Brautschleier am Tatort gefunden worden.»
«Den Angaben der Spurensicherung zufolge lag er dreiMeter von der Leiche entfernt im Sand. Er war halb eingebuddelt. Jemand hat ihn wahrscheinlich mit dem Fuß in den Boden getreten.»
«Carlos, was auch immer das zu bedeuten hat, es ist wichtig. Es passt zu allem, was wir bislang herausgefunden haben. Er hat
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