Die Braut im Schnee
nutzen den schönen Tag, um ihren Reinigungsflug zu machen. Denn bald beginnt die Brut.»
Der Mann war jetzt bei ihm angekommen. Er streifte seine Handschuhe ab, um den Gast zu begrüßen.
«Hauptkommissar Marthaler aus Frankfurt, nehme ich an.»
Marthaler nickte. Als Rainer Hirschberg jetzt seinen Helm samt dem Schleier abnahm, kam dahinter ein weiches, fast jugendlich wirkendes Gesicht mit freundlichen kleinen Augen zum Vorschein.
«Was ist? Sie wirken verwundert», sagte er.
«Ja», antwortete Marthaler, «für einen Pensionär kommen Sie mir reichlich jung vor.»
«Danke für das Kompliment», sagte er. «Ich hatte keine Lust mehr zu arbeiten», sagte er. «Und als ich vor zwei Jahren fünfundfünfzig wurde und von einem Onkel das alles hier geerbt habe, gab es keinen Grund mehr für mich, noch weiterzumachen.Alle waren froh, als ich aufhörte. Am meisten wohl ich selbst.»
Hirschberg führte seinen Gast zu dem verwitterten Holztisch, der ein wenig abseits unter einer großen Weide stand.
«Wollen wir uns hier auf die Bank setzen, oder mögen Sie lieber ins Haus gehen? Dort könnte ich uns Kaffee kochen.»
«Nein», erwiderte Marthaler. «Es wird nicht erfreulich, was wir besprechen müssen. Da wollen wir wenigstens im Freien sitzen.»
Während er mit seinem Bericht begann, stopfte Rainer Hirschberg sich eine Pfeife. Auf der Herfahrt hatte Marthaler sich vorgenommen, die Geschichte des Falles von Anfang an zu erzählen. Der Mann sollte mit allen Details vertraut sein, bevor er seine Einschätzung abgab. Als Marthaler fertig war, hatte er fast eine Stunde geredet. Immer wieder hatte er versucht, am Gesicht seines Zuhörers etwas abzulesen. Aber er hatte weder Abscheu noch Verwunderung darin entdecken können, nur das konzentrierte Interesse des Fachmanns.
«Und?», fragte Hirschberg. «Was erwarten Sie jetzt von mir?»
«Sie sind Psychologe, Sie gelten als Spezialist für Sadismus. Also sagen Sie mir, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben.»
«Wie haben Sie reagiert, als Sie das erste Opfer dort im Hof gesehen haben? Mit entblößtem Unterleib, der Ihnen entgegengestreckt war.»
Marthaler war irritiert über die Frage. «Mit Entsetzen … mit bodenlosem Entsetzen. Was sonst?», antwortete er.
«Genau: mit was sonst? Das ist es, was mich interessiert. War da noch etwas anderes?»
Marthaler sagte lange gar nichts. Er hatte Mühe zu verstehen, was der andere mit seiner Frage gemeint haben könnte. Schließlich begann er zu begreifen. Und dann wurde er laut.«Wissen Sie was: Gewalt erregt mich nicht, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Gewalt widert mich an. Und wenn Sie mir einreden wollen, ich müsse auch dafür noch Verständnis aufbringen, muss ich Sie enttäuschen.»
Rainer Hirschberg schwieg. Ab und zu zog er an seiner Pfeife. «Der Fall interessiert mich», sagte er schließlich, ohne sein Gegenüber anzusehen. «Er interessiert mich sogar sehr. Aber ich weiß nicht, ob ich der Richtige für Sie bin. Ich weiß nicht, ob Sie mir wirklich zuhören wollen.»
Marthaler merkte, dass er zu brüsk gewesen war. Er fürchtete, das Gespräch könne zu Ende sein, bevor es noch begonnen hatte.
«Jedenfalls hatte ich bislang keinen Grund zu zweifeln, dass Sie der Richtige sind», sagte er. «Ich möchte nur, dass eines klar ist: Wir versuchen, einen Verbrecher zu finden. Der Mann hat drei Morde begangen, und wir müssen ihn fassen, bevor er ein neues Opfer gefunden hat.»
«Aber wenn unser Gespräch einen Sinn haben soll», sagte Hirschberg, «dann finden Sie sich damit ab, dass für mich Sadismus keine Perversion ist, nicht einmal eine Verirrung. Es ist eine Neigung, eine Variante. Ich bin Wissenschaftler, kein Arzt und auch kein Richter. Für einen ernsthaften Zoologen gibt es kein Ungeziefer, für einen Botaniker kein Unkraut. Und für mich gibt es keine Perversen. Also verlangen Sie keinen Abscheu.»
«Gut», sagte Marthaler. «Ich weiß nicht, ob ich Sie verstehe, aber gut. Sagen Sie mir, was Ihnen zu dem Mann einfällt.»
«Von Sadisten ist in der Öffentlichkeit fast immer nur im Zusammenhang mit Gewalttaten die Rede. Aber machen Sie sich bitte klar, dass die meisten, die überaus meisten dieser Menschen ihre Neigungen in völlig geordneten Bahnen ausleben. Sie verabreden sich mit Gleichgesinnten, sie treffensich in Privatzirkeln, in Salons und Clubs, manche finden sogar einen Partner, mit dem sie ein erfülltes Sexualleben verbindet, manchmal ein Leben lang, manchmal sogar in
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