Die Braut im Schnee
denken Sie?»
«Doch, Chef», sagte Marthaler, «etwas Ähnliches habe ich auch gerade gedacht.» Er wandte sich ab und ging in Richtung der Fahrstühle.
«Ach, Marthaler», rief Herrmann ihm nach. «Wie heißt das Zauberwort?»
Marthaler stellte sich dumm: «Das Zauberwort?»
«Das Zauberwort heißt: danke. Wie wär’s, wenn Sie einfach mal danke sagen würden?»
Marthaler lächelte. Als sich die Fahrstuhltür hinter ihm schloss, merkte er, wie der Krampf in seinen Schultern langsam nachließ.
FÜNF
Sein Fahrrad hatte er im Präsidium stehen lassen. An der Haltestelle Schweizer Platz stieg Marthaler aus der U-Bahn und nahm die steile Rolltreppe, um ins Freie zu gelangen. Er lief bis zur Mörfelder Landstraße und betrat den italienischen Imbiss, in dem er seit vielen Jahren Kunde war. Wie immer, wenn er den Kopf in den Nacken legte, um die Speisekarte auf der großen Anzeigetafel zu studieren, hatte er bereits nach kürzester Zeit das Gefühl, dass er die Geduld des Personals überstrapazierte. «Lassen Sie sich ruhig Zeit, Dottore», sagte der Pizzabäcker, aber Marthaler meinte zu sehen, dass er seinem Kollegen zuzwinkerte. Weil ihm die Entscheidung schwer fiel, bestellte er schließlich sechsmal die Pizza «Vier Jahreszeiten». Dann fiel ihm ein, dass Manfred Petersen Vegetarier war, und er musste seine Bestellung korrigieren. Und wieder hatte er den Eindruck, dass man ihn mit demonstrativer Nachsicht behandelte.
«Warum müsst ihr Italiener eigentlich unentwegt aller Welt zeigen, wie gewitzt, wie flink ihr seid? Warum fühlt man sich in eurer Gegenwart eigentlich immer wie ein ungelenker, behäbiger Trottel?»
Marthaler bereute seine schlecht gelaunte Frage sofort und war froh, dass man ihn offensichtlich nicht verstanden hatte. Und als der Inhaber wissen wollte, ob er Besuch erwarte, nickte er nur, zahlte und ging. Er hatte keine Lust auf Kumpanei. Er wollte mit sich und seinen Gedanken allein sein.
Zehn Minuten später betrat er den Hausflur. Er öffnete den Briefkasten und hoffte, dass Tereza ihm vielleicht eine Nachricht eingeworfen habe. Aber alles, was er fand, war ein kostenlosesAnzeigenblatt und eine Urlaubskarte, die ihm seine Eltern aus dem Schwarzwald geschrieben hatten. Sie kündigten an, auf der Rückfahrt einen kleinen Abstecher nach Frankfurt zu machen, um ihn auf eine Tasse Kaffee zu besuchen. Marthaler bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Er ahnte bereits, dass er ihnen einen Korb würde geben müssen. Er stieg die Treppen hinauf und schloss die Wohnungstür auf. Er betrat den Flur, ohne das Deckenlicht einzuschalten. Er schaute nach, ob das grüne Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte, aber niemand hatte versucht, ihn zu erreichen. Er stellte die Pizzaschachteln auf dem Esstisch in der Küche ab, dann ging er ins dämmrige Wohnzimmer, stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Die Frau in der Wohnung gegenüber war zu Hause. Er sah, wie sie sich hinter der Milchglasscheibe des Badezimmers bewegte. Er konnte sie nur schemenhaft erkennen, aber er glaubte, dass sie nackt war. Marthaler schaute ihr zu, ohne darüber nachzudenken, was er da tat. Als sie das Nachbarzimmer betrat, hatte sie einen Bademantel übergezogen und ein Handtuch um ihr Haar geschlungen. Sie machte ein paar eilige Schritte, hob das Telefon an ihr Ohr und bewegte die Lippen. Marthaler sah, dass sie lachte. Sie freute sich über den Anruf. Sie drehte sich zum Fenster und schaute in Marthalers Richtung. Obwohl er sicher war, dass sie ihn nicht sehen konnte, trat er instinktiv einen Schritt zurück. Ihre Miene hatte sich jetzt verdüstert. Sie nickte. Sie wirkte enttäuscht. Sie legte das Telefon zur Seite, dann ging sie zum Fenster und schloss die Gardinen.
Marthaler zog seinen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Dann ging er zur Musikanlage und legte die CD mit Schuberts Arpeggione-Sonate ein. Es war die alte Aufnahme mit Rostropowitsch und Benjamin Britten. Den Lautstärkeregler drehte er so weit nach links, dass die Musik gerade noch zu hören war. Er gab sich Mühe, nicht an Tereza zu denken, die das Stück immer besonders gemocht hatte. Erversuchte, an gar nichts zu denken, setzte sich in den Sessel und wartete auf seine Kollegen.
Eine halbe Stunde später hatten sie sich in Marthalers Wohnung versammelt. Als Letzter kam Walter Schilling. Er entschuldigte sich für seine Verspätung. Während die anderen an ihren aufgewärmten Pizzen kauten und über den bevorstehenden Umzug der Abteilung
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