Die Braut im Schnee
neben ihr zu setzen.
«Ich will der Reihe nach berichten», sagte sie. «Ich habe mich gefragt, wie der Mörder Kontakt zu Andrea Lorenz bekommen konnte. Wenn es stimmt, dass er sie nicht kannte, muss er auf irgendeine Weise erfahren haben, dass sie noch andere Dienste anbot als die einer Kosmetikerin und Masseurin. Ich war gestern Nachmittag drei Stunden bei den Kollegen von der Sitte. Wir haben alle einschlägigen Anzeigenblätter und Internetseiten abgesucht – ohne Ergebnis …»
«Bitte, Kerstin!», mahnte jetzt Kai Döring. «Erzähl uns nichts von den Fehlschlägen. Erzähl, was du entdeckt hast!»
«Gut. Als ich heute Nacht nach Hause kam, habe ich mich nochmal an den Computer gesetzt. Ich habe mir gedacht, dasszwei so spektakuläre Morde in den Chatrooms im Internet nicht unbeachtet geblieben sein können. Ich habe die Namen unserer beiden Opfer in eine Suchmaschine eingegeben und bin auf über 1200 Treffer gekommen. Das meiste war Archivmaterial der Zeitungen und Fernsehsender.»
Während sie sprach, hatte Kerstin Henschel ihr Notebook eingeschaltet und den Netzbrowser angeklickt. Kurz darauf erschien auf dem Bildschirm das Eingabefeld einer Suchmaschine. Sie tippte den Namen von Andrea Lorenz ein und zusätzlich die Worte «Mord» und «Frankfurt». Dann löste sie den Suchbefehl aus und ging auf eine der hinteren Seiten der Ergebnisliste.
«So», sagte sie, als sie den gesuchten Eintrag gefunden hatte, «und jetzt pass auf!»
Für einen kurzen Moment erschien eine Textseite, aber bevor Marthaler eine Zeile lesen konnte, hatte Kerstin Henschel auf das Wort «Home» geklickt. Der Monitor wurde schwarz, dann erschienen die roten Lippen eines Frauenmundes, der sich erst zum Kuss spitzte und dann zu einem Lachen öffnete. Aus dem Inneren des Mundes wand sich ein Schriftzug: «The Casanova Project».
«O Gott», sagte Marthaler, «sieht das billig aus.»
«Ja», sagte Kerstin Henschel, «aber obwohl es die Homepage noch nicht lange gibt, scheint sie sich bereits zu einer riesigen Erfolgsgeschichte zu entwickeln. Das ‹Casanova Project› ist eine englischsprachige Seite, die von Manila aus betrieben wird. Inzwischen erreicht man aber von hier aus Unterseiten in allen großen Weltsprachen. Die Benutzer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz treffen sich im ‹Casanova-Forum›.»
«Und um was geht es? Was soll das Ganze?»
«Man könnte sagen, dass es sich um die Plauderstube des internationalen Sextourismus handelt. Wenn du Interessehast, in Bangkok, Barcelona oder Nairobi ein Bordell aufzusuchen, kannst du hier nach den Erfahrungen anderer Freier fragen. Binnen weniger Stunden wird man dir sagen, welches Mädchen zu welchem Preis unter welcher Adresse zu finden ist. Du bekommst Angaben zu ihrer Körpergröße, zu ihrem Brustumfang und zu ihrer Anschmiegsamkeit.»
«Und was hat das alles mit Andrea Lorenz zu tun?»
«Warte! Es gibt im ‹Casanova-Forum› verschiedene Themen, so genannte Threads, die die Benutzer selbst eröffnen können. Dort wird dann alles diskutiert, was einen gut verdienenden Mann von Welt interessiert. Zum Beispiel: Wo bekommt man preiswert Ersatzteile für seinen Porsche? Wo kann man sich im Frankfurter Norden auch nach Mitternacht noch von einer blonden Inderin massieren lassen? Oder: Was macht eigentlich die scharfe Lenka aus Eschborn, die schon so lange nicht mehr im Swinger-Club aufgetaucht ist?»
«Über all das wird dort … geplaudert, wie du es nennst?»
«Ja, und zwar völlig legal und im Schlips-und-Kragen-Ton. Die Benutzer haben offensichtlich nicht den Hauch eines schlechten Gewissens, wenn sie über Mädchen aus der ganzen Welt wie über Vieh sprechen. Sie zahlen, also verlangen sie Leistung. Die Prostituierten werden getestet wie jedes andere Produkt, und die Testberichte werden im Forum veröffentlicht. Natürlich schreibt hier niemand unter seinem richtigen Namen. Man ist auf Diskretion bedacht. Also sucht man sich einen Nickname. Da gibt es dann so hübsche Namen wie ‹Rüssel›, ‹Sugarboy› oder ‹Schmusebär›.»
«Kerstin, bitte! Komm auf den Punkt!» Diesmal war es Sven Liebmann, der zu größerer Eile drängte, aber Marthaler widersprach ihm sofort.
«Nein. Ich bin der Älteste von uns. Ihr dürft nicht davon ausgehen, dass jemand, der über vierzig ist, sich täglich imInternet bewegt. Also lasst uns genauso weitermachen. Wenn es wichtig ist, was ihr mir zu sagen habt, dann will ich auch verstehen, um was es geht.»
«Gut»,
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