Die Braut im Schnee
Grund nannte er nicht.
«Aber lass dir nicht zu viel Zeit», sagte seine Kollegin. «Ich bin auf etwas gestoßen. Ich habe heute Nacht noch eine Weileins Internet geschaut. Ich habe etwas gefunden, das du dir anschauen musst.»
Marthaler ging zurück zu dem Jungen, der jetzt mit beiden Händen den großen Becher mit heißem Tee umfasst hielt. Tobi war blass, seine Augen glänzten fiebrig.
«Ich glaube, du wirst krank», sagte Marthaler. «Wir packen dich jetzt hier auf die Couch und decken dich gut zu. Und dann werden wir uns unterhalten. Du musst mir alles erzählen, was du gesehen hast.»
Tobi nickte. Marthaler holte Bettzeug und einen alten Schlafanzug. Als Tobi gut versorgt schien, begannen sie ihr Gespräch. Zunächst redete der Junge stockend, zögerlich. Aber schließlich schien er zu merken, dass es ihm gut tat, sich jemandem anzuvertrauen. Er berichtete von dem Nachmittag, als Mara und er in den Schwanheimer Dünen gewesen waren. Von dem Auto, dessen Motor nicht hatte anspringen wollen, und von dem Mann mit der Pistole, der ihn verfolgt hatte. Marthaler ließ den Jungen erzählen, ohne eine Zwischenfrage zu stellen. Erst als Tobi fertig war, begann Marthaler mit seiner Vernehmung. Die wichtigste Frage war, ob der Junge den Unbekannten wiedererkennen würde, ob es ihm gelingen würde, ihn zu beschreiben.
«Weißt du, was ein Phantombild ist?», fragte Marthaler.
Tobi nickte.
«Könntest du uns helfen, ein solches Bild anzufertigen? Wir haben im Präsidium ein Computerprogramm und Leute, die so etwas können.»
«Nein», sagte Tobi. «Ich gehe hier nicht weg. Und keiner darf wissen, dass ich hier bin. Sie haben es mir versprochen. Keiner.»
«Gut», sagte Marthaler.
«Außerdem habe ich den Mann nie aus der Nähe gesehen. Und er trug jedes Mal eine Sonnenbrille.»
«Weißt du, was er für einen Wagen fuhr?»
«Einen großen, dunklen. Ich kenne mich mit Autos nicht aus.»
«Was war es? Ein Mercedes, ein BMW, ein Audi, ein Opel? War es ein altes Auto oder ein neues?»
Tobi zuckte mit den Achseln. «Er war groß und dunkel. Vielleicht dunkelblau. Mehr weiß ich nicht.»
Marthaler wechselte das Thema. Noch einmal ging er die Ereignisse der vergangenen Tage durch. Er fragte nach dem Polizeiauto, das angeblich vor dem Haus gestanden hatte, in dem Tobi wohnte. Und er erkundigte sich nach dem Mann, vor dem er in Mainz davongelaufen war. Er war sich unsicher, was der Junge wirklich gesehen hatte. Oft waren die Zeugen eines Gewaltverbrechens so verängstigt, dass ihre Aussagen unzuverlässig wurden. Sie fühlten sich verfolgt, obwohl es keine wirkliche Bedrohung gab.
«Hinten auf dem Auto war ein Stern», sagte Tobi.
«Ein Stern? Also war es doch ein Mercedes?»
Für einen Moment schöpfte Marthaler Hoffnung, doch dann führte auch dieser Hinweis nicht weiter.
«Nein. Es war ein anderer Stern, ich weiß nicht.»
Nach einer guten Stunde merkte Marthaler, dass er im Moment nichts Neues von Tobi erfahren würde. Der Junge war am Ende seiner Kräfte.
«Du solltest jetzt versuchen zu schlafen. Wenn du aufwachst, kannst du fernsehen oder Musik hören. Und wenn du hungrig bist, holst du dir etwas zu essen aus dem Kühlschrank. Hauptsache, du läufst nicht wieder weg.»
Tobi nickte. Ihm fielen bereits die Augen zu. Marthaler ging in die Küche, um ihm noch ein Glas Wasser zu holen. Als er wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, war der Junge eingeschlafen. Auf seiner Stirn hatten sich dicke Schweißperlen gebildet.
«Robert, endlich», sagte Kerstin Henschel, als Marthaler gegen Mittag das Sitzungszimmer im Weißen Haus betrat. «Wir brauchen deine Entscheidung. Wir haben einen Vorschlag. Eigentlich haben wir es bereits beschlossen. Alles hängt jetzt von dir ab.»
Marthaler schaute ratlos in die Runde. «Kerstin, bitte. Ich verstehe gar nichts. Was ist los? Was habt ihr vor? Was hängt von mir ab?»
Er merkte, dass seit Mitternacht, seit sie das letzte Mal hier zusammengesessen hatten, etwas in Bewegung gekommen war. Es schien, als würden alle in den Startlöchern hocken, um zum entscheidenden Sprung anzusetzen. Selbst Toller, der noch immer so aussah, als hätte er Magenkrämpfe, zappelte vor Ungeduld auf seinem Stuhl.
Auch Kerstin Henschel sah erschöpft aus. Erschöpft, aber zugleich aufgekratzt. «Warte! Bevor wir darüber reden, will ich dir erst etwas zeigen.»
Sie klappte den Bildschirm des Notebooks auf, das vor ihr auf dem Tisch stand. Dann bat sie Marthaler, sich auf den freien Stuhl
Weitere Kostenlose Bücher