Die Braut im Schnee
nur eine Vertretung für Professor Prußeit übernehmen sollen. Dieser jedoch war bei einem Autounfall so schwer verletzt worden, dass er nicht wieder an seinen Arbeitsplatz hatte zurückehren können und ein halbes Jahr später in einer Reha-Klinik überraschend verstorben war. Die Entscheidung, seinen Vertreter zum Leiter des Instituts zu machen, war damals nicht unumstritten gewesen. Doch obwohl Dr. Herzlich immer mehr und immer neue Marotten an den Tag legte, galt er inzwischen als einer der Besten seines Fachs, war ein überaus beliebter Dozent und wurde in zahlreichen Prozessen als Gutachter bestellt. Und seit Marthaler zunehmend den Eindruck hatte, in seinem Berufsalltag vor allem von Managern und Technokraten umgeben zu sein, war er froh, dass man gelegentlich noch auf einen Sonderling traf. Aber jedes Mal, wenn es von jemandem hieß, er sei ein «seltsamer Vogel», musste er unwillkürlich an Dr. Herzlich denken. Auf niemanden, den Marthaler kannte, traf diese Bezeichnung so uneingeschränkt zu wie auf den obersten Rechtsmediziner.
Als sie den großen Sektionssaal betraten, wandten sichihnen acht Gesichter zu. Und auf allen konnte man ein unsicheres Lächeln erkennen. Die drei Studentinnen und fünf Studenten schienen nicht eben erbaut, dass man sie in dem kühlen, gekachelten Raum hatte warten lassen.
Dr. Herzlich klatschte in die Hände, schniefte vernehmlich, zog ein riesiges Taschentuch aus seiner Kitteltasche und schnäuzte sich ausgiebig die Nase. Dann schob er die Ärmel seines Kittels nach oben, um sich ein Paar farblose Latexhandschuhe überzustreifen. Er wandte sich den Kühlfächern zu, die sich an der gegenüberliegenden Wand befanden, entriegelte die größte dieser Boxen, hielt kurz inne, drehte sich noch einmal um, schaute mit hochgezogenen Brauen in die Runde, nickte, zog schließlich den schweren Metallschlitten heraus und ließ ihn auf den bereitstehenden Rollwagen gleiten, den er nun mit einer fast eleganten Bewegung in die Mitte des Saales schob.
Es war, als würden alle, die sich im Raum befanden, im selben Moment die Luft anhalten, um kurz darauf mit einem verhaltenen Stöhnen wieder auszuatmen. Der Student, der direkt neben Marthaler stand, schaute ihn mit entsetzter Miene an. In einer reflexhaften Bewegung hatte der junge Mann die Hände vor den Mund geschlagen.
Auch Marthaler wurde von dem Anblick, der sich ihm bot, überrascht. Er hatte erwartet, den Leichnam Gabriele Haslers mit einem Tuch bedeckt auf der Bahre liegen zu sehen. Stattdessen kniete die Tote in derselben Stellung, wie man sie vor ihrem Haus gefunden hatte: den entblößten Hintern in die Höhe gereckt, den Oberkörper vornübergebeugt und das verzerrte Gesicht zur Seite gedreht. Nicht einmal die Augenlider hatte man ihr geschlossen. Und noch immer trug sie dieselben Kleidungsstücke.
Dr. Herzlich gab einen kehligen Laut von sich. Dann schüttelte er lange den Kopf. «Ah, pardon … ich hätte nicht …ohne Vorwarnung … grauenhaft … pardon.» Erst jetzt schien ihm bewusst zu werden, was er den anderen zumutete. Es herrschte betretenes Schweigen. Es war, als würde jeder nach einer Möglichkeit suchen, sich dem Anblick des Leichnams zu entziehen, nach einem Punkt, auf dem die Augen ruhen konnten. Alle warteten darauf, dass der Bann gebrochen würde. Eine der Studentinnen begann nervös zu kichern.
Endlich ergriff Thea Hollmann das Wort. «Ich kann Ihr Entsetzen verstehen», sagte sie, «und es ist gut, dass Sie solche Empfindungen zeigen. Denn nur wer berührbar ist, darf auch berühren. Und genau das werden Sie tun müssen. Wenn Sie sich für diesen Beruf entscheiden, werden Sie vielen Toten sehr nahe kommen. Aber der Respekt, den Sie dem Opfer entgegenbringen, muss darin bestehen, dass Sie Ihre Arbeit so gewissenhaft wie möglich erledigen. Das allerdings wird Ihnen nur gelingen, wenn Sie sich nicht von Ihren Gefühlen überwältigen lassen.»
Marthaler bemerkte das beifällige Nicken, mit dem Dr. Herzlich die Worte seiner Assistentin bedachte. Mit einem fast genießerischen Zwinkern schien er der neuen Kollegin seine Bewunderung zeigen zu wollen.
«Ihre Gefühle wollen, dass Sie sich von dem schrecklichen Anblick abwenden», sagte Thea Hollmann in Richtung des studentischen Nachwuchses, «aber Ihr Beruf verlangt, dass Sie das Gegenteil tun. Also: Schauen Sie hin! Je genauer, desto besser!»
Nur zögernd kamen die Studenten ihrer Aufforderung nach. Marthaler war sich sicher,
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