Die Braut im Schnee
kein genaues Bild von ihr machen. Mir kommt es vor, als ob sie etwas zu verbergen hatte. Die Frau ist mir wirklich ein Rätsel.»
Kerstin Henschel grinste. Sie lief neben ihm her über den Gang des Präsidiums. Dann überholte sie ihn und hielt ihm die Tür auf. «Robert?»
«Ja?»
«Kann es sein, dass dir die meisten Frauen ein Rätsel sind?»
Marthaler lachte. Er hob die Hände zum Zeichen, dass er sich ergab.
«Okay, okay», sagte er. «Eins zu null für dich.»
NEUN
Kurz hinter der Friedensbrücke war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Auf der großen Kreuzung an der Kennedyallee hatte sich ein Unfall ereignet. Mehrere Autos waren ineinander gerutscht und versperrten die Fahrbahn. Die Einsatzfahrzeuge hatten Mühe, sich ihren Weg durch die dicht an dicht stehenden Wagen zu bahnen.
Marthaler schaute auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Dr. Herzlich hatte ihn gebeten, Punkt 15 Uhr im Zentrum der Rechtsmedizin zu sein. Mit dem Auto würden sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Marthaler beschloss, den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Er verabschiedete sich von Kerstin Henschel und stieg aus. Dann stapfte er mit hochgeschlagenem Kragen durch die verschneiten Straßen des angrenzenden Wohngebiets. Er war froh, noch ein paar Minuten mit sich und seinen Gedanken allein sein zu können.
Seine Kollegin hatte Recht. Er war zu dick. Er musste sich mehr bewegen und stärker auf seine Gesundheit achten. Er würde sein Leben ändern müssen. Er beschloss, schon morgen eine halbe Stunde früher aufzustehen und wieder Gymnastik zu machen. Außerdem würde er keine Butter mehr essen und sich ein Diät-Kochbuch kaufen. Und wenn er den Mut dazu fand, würde er Tereza bei Gelegenheit fragen, ob sie ihn liebe.
Er stand vor dem Gebäude der Rechtsmedizin und schaute auf die erleuchteten Fenster. Wie immer zögerte er, das Haus zu betreten. Die äußere Schönheit der alten Villa kam ihm trügerisch vor. Das, was darin geschah, war ihm so zuwider, dass er es möglichst vermied, hierher zu kommen.Fast immer bat er einen seiner Kollegen, diese Aufgabe zu übernehmen. Und vielleicht, dachte Marthaler, geht es denen, die hier arbeiten müssen, ähnlich. Vielleicht haben sie sich deshalb ein solch ansehnliches Haus ausgesucht, weil sie es anders gar nicht aushalten würden, sich Tag für Tag mit den toten Körpern von Verbrechensopfern beschäftigen zu müssen.
Er meldete sich am Empfang und bat den Pförtner, ihn bei Dr. Herzlich anzumelden. Zwei Minuten später kam eine junge Frau im weißen Kittel über den Gang und lächelte ihm zu. Sie war Mitte zwanzig, hatte kurz geschnittenes rotblondes Haar und ein rundes Gesicht. «Hauptkommissar Marthaler? Mein Name ist Thea Hollmann, ich bin die neue Assistentin von Dr. Herzlich. Kommen Sie, unten warten schon alle auf Sie!»
«Alle?», fragte Marthaler. Unwillkürlich beugte er sich ein Stück in Richtung der jungen Frau vor und sog den Duft ihres Parfums ein.
«Ja», erwiderte sie. «Wir haben heute Gäste im Haus. Eine Gruppe von Dr. Herzlichs Studenten, die zum ersten Mal einen Sektionssaal von innen sehen. Hoffen wir, dass niemand mit einem empfindlichen Magen dabei ist. Besonders die jungen Herren zeigen gerne mal Nerven.»
Sie hatten das Untergeschoss erreicht und liefen bis ans Ende des Gangs. Als sie gerade vor Herzlichs Büro angekommen waren, wurde die Tür von innen aufgerissen. Marthaler erschrak. Der Gerichtsmediziner gab ein keckerndes Lachen von sich, sein schmaler Vogelkopf ruckte vor Begeisterung ein paarmal vor und zurück.
«Ah, formidabel … alle beisammen … der Hauptkommissar … alle beisammen.»
Dr. Herzlich stieß seinen rechten Arm nach vorne, sodass Marthaler unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Dann wollteer die knochige Hand ergreifen, die der andere ihm kurz entgegengestreckt, aber noch im selben Moment wieder zurückgezogen hatte.
«Ha … verstehe … keine Zeit für Höflichkeiten. Alle viel beschäftigt.»
Dr. Herzlich drängte Marthaler zur Seite. Dann stürmte der schlaksige Mann mit weit ausholenden Schritten über den Gang, blieb abrupt stehen, drehte kurz den Kopf, riss beide Arme in die Luft und wedelte mit den Händen, als wolle er einen Tanz aufführen. «Bitte mir zu folgen … Mir nach … adelante!»
Marthaler erinnerte sich, wie sehr ihn das Gebaren von Dr. Herzlich befremdet hatte, als er ihm vor ein paar Jahren zum ersten Mal begegnet war. Herzlich hatte damals eigentlich
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