Die Braut im Schnee
Stadt fuhr, wunderte Robert Marthaler sich, wie klein sie war. Wenn der Verkehr es zuließ, brauchte man keine halbe Stunde, um von einem zum anderen Ende zu gelangen. Frankfurt ist ein Dorf mit Hochhäusern, dachte er. Und genau das war es, was ihm hier gefiel: das Zentrum mit seinen vielen Museen, den Einkaufsstraßen, den Parks und belebten Plätzen, mit dem Dom, der Paulskirche und dem Römerberg. Und rundherum die vielen kleinen Vororte, in denen es noch Fachwerkhäuser und Bauernhöfe gab, alte Gastwirtschaften mit Gärten, wo manunter alten Bäumen sitzen konnte, das Ufer der Nidda, die Streuobstwiesen, die weiten Felder und der riesige Stadtwald – das alles war ihm über die Jahre so vertraut geworden, dass er sich nicht mehr vorstellen konnte, woanders zu leben. Sooft er auch mit den Zuständen in der Stadt haderte, er fühlte sich hier zu Hause, mehr als an jedem anderen Ort. Und obwohl er an seinen freien Tagen gerne ans Meer fuhr oder die Wochenenden in der Rhön, im Vogelsberg, im Odenwald oder in den Kasseler Bergen verbrachte, so freute er sich doch immer darauf zurückzukehren. Und stets reagierte Marthaler mit Widerwillen, wenn jemand, der die Stadt nicht kannte, verächtlich über sie sprach. Manchmal hatte er den Eindruck, Frankfurt und er seien wie ein Geschwisterpaar, das sich unentwegt in den Haaren lag, das aber sofort zusammenrückte, wenn ein Fremder versuchte, ihm dumm zu kommen.
Als er die Alte Brücke überquerte, sah er unter sich auf der kleinen Maininsel die Bäume, deren kahle Äste mit Schnee bedeckt waren. Fast war er versucht, den Schwänen zuzuwinken, von denen er wusste, dass sie dort unten ihr Quartier hatten. Er durchfuhr den westlichen Teil Sachsenhausens und gelangte am Ende der Gartenstraße wieder an den Fluss, wo er den grauen Daimler auf einem der Parkplätze des Klinikums abstellte. Einen Mann, der gerade in seinen Wagen einsteigen wollte, fragte er nach dem Weg zum Carolinum, dem Institut für Zahnmedizin. «Sie stehen davor», antwortete der Fremde und deutete mit dem Kopf auf einen modernen dreistöckigen Gebäudekomplex, der sich parallel zum Mainufer erstreckte.
Marthaler betrat die Eingangshalle. Die Anmeldung war überfüllt mit Patienten, die auf ihre Behandlung warteten. Er ging zu der großen Übersichtstafel und versuchte sich zu orientieren. Dann beschloss er, mit dem Aufzug in den ersten Stock zu fahren, wo sich die Hörsäle und die Bibliothek befanden.
«Kann ich Ihnen helfen?» Die Angestellte hinter dem Schreibtisch hatte ein breites, freundliches Gesicht. Sie schaute über den Rand ihrer halben Brille zu Marthaler auf.
«Ich suche jemanden, der schon etwas länger hier arbeitet», sagte er.
«Da bin ich», sagte sie. «Seit siebzehn Jahren und neuneinhalb Monaten Bibliothekarin im Carolinum. Ist das lange genug?»
Marthaler nickte. «Ich bin auf der Suche nach einer Frau.»
Die Bibliothekarin hob die Brauen. In ihren Augen blitzte Spott auf. «Tut mir Leid», sagte sie und zeigte den Ehering an ihrer geballten Faust. «Ich bin schon glücklich.»
Erst jetzt merkte Marthaler, was er gesagt hatte. Indem er in den Taschen seines Mantels kramte, versuchte er seine Verlegenheit zu überspielen. Er zog seinen Ausweis hervor. «Sagt Ihnen der Name Gabriele Hasler etwas?»
Sofort wich das Lächeln aus dem Gesicht der Frau.
«Ja, natürlich», sagte sie. «Sie hat hier studiert. Wir haben gehört, was passiert ist. Hier im Institut sind alle sehr bestürzt.»
«Heißt das, Sie kannten sie gut?»
«Nein, das kann man nicht sagen. Sie hat öfter im Lesesaal gesessen. Mal alleine, mal mit einer Freundin. Ich musste die beiden gelegentlich ermahnen, wenn sie allzu laut miteinander geflüstert haben. An mehr erinnere ich mich eigentlich nicht. Nur einmal, da …» Die Bibliothekarin schien zu überlegen, ob sie weitersprechen sollte.
Marthaler nickte ihr zu. «Ja?»
«Einmal bin ich mit ihr aneinander geraten. Ich hatte ihr erlaubt, ausnahmsweise ein sehr teures Fachbuch übers Wochenende mit nach Hause zu nehmen. Immer, wenn ich sie sah, versprach sie, das Buch am nächsten Tag wieder mitzubringen.Schließlich musste sie zugeben, es verloren zu haben.»
«Und? Was haben Sie gemacht?»
«Ich bat sie, das Buch zu ersetzen. Ohne Erfolg. Schließlich habe ich ihr Mahnungen geschrieben. Aber angeblich hatte sie kein Geld. Eines Tages kam Professor Wagenknecht, legte mir zweihundertfünfzig Mark auf den Schreibtisch und sagte, damit sei die Sache
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