Die Braut im Schnee
erledigt.»
«Hat Sie das nicht gewundert?»
Die Bibliothekarin sah Marthaler an. «Ich fand, es war eine noble Geste. Gabriele Hasler war seine Studentin. Er wollte ihr helfen.»
«Sie sprachen von einer Freundin.»
«Ist das die Frau, die Sie suchen?»
Marthaler lächelte. «Ja. Ich würde gerne mit ihr über Gabriele Hasler sprechen. Wissen Sie, wie sie heißt?»
«Nein. Aber fragen Sie Professor Wagenknecht. Er wird sich an die beiden erinnern. Sie saßen eine Zeit lang in all seinen Vorlesungen.»
«Und wo finde ich den Professor?»
Die Frau stand auf, beugte sich weit über ihren Schreibtisch und schaute den Gang hinunter. Dann rückte sie ihre Brille zurecht und sah auf die Armbanduhr.
«Gerade ist er noch hier vorbeigelaufen. Wahrscheinlich ist er etwas essen gegangen. Wenn Sie Glück haben, sitzt er gegenüber im ‹Fliegenden Fuchs›.»
Marthaler überquerte die Straße und lief auf dem Fußweg ein kurzes Stück stadtauswärts. Auf dem bewachsenen Uferstreifen zwischen Fluss und Fahrbahn gab es eine Kleingartensiedlung und einen Campingplatz, auf dem ein paar alte Wohnwagen standen. Vor Jahren war Marthaler einmal hier gewesen, als sie nach einem Mann gesucht hatten, der in denParks der Stadt Obdachlose überfallen und mit einem Hammer erschlagen hatte. Die Bewohner dieses Campingplatzes waren keine Urlauber, sie lebten ständig hier. Manche, weil sie arbeitslos geworden waren und die Mieten ihrer Wohnungen nicht mehr bezahlen konnten, manche, weil sie einfach hier hängen geblieben waren. Marthaler erinnerte sich an die Angst und an das Misstrauen dieser Leute, als seine Kollegen und er sie damals befragt hatten. Es war ihm vorgekommen, als sei die Furcht der Campingplatzbewohner vor den Behörden fast ebenso groß wie die vor dem Fremden, der nachts in den Parks sein Unwesen trieb.
Jetzt sah er das verwitterte Holzschild, das schief am Stamm einer Erle hing. Jemand hatte mit grüner Farbe einen Pfeil darauf gemalt und die Worte ‹Zum fliegenden Fuchs›. Der Pfeil führte Marthaler direkt auf die schmale Landzunge, die fünfhundert Meter weit dem Lauf des Mains folgte und auf zwei Seiten von Wasser umschlossen war. Die Gaststätte war in einem ehemaligen Bootshaus untergebracht. Das Gebäude sah aus, als sei es schon lange nicht mehr renoviert worden. Von den Fensterläden war die Farbe abgeblättert, der Putz an den Außenwänden war an manchen Stellen fast schwarz, und auf dem Boden neben dem Eingang lagen die Teile einer zerbrochenen Schindel, die sich vom Dachstuhl gelöst hatte.
Marthaler öffnete die Tür und befand sich sofort im Gastraum. Hinter dem Tresen stand eine junge Frau. Als sie ihm zulächelte, sah er, dass ihr ein Eckzahn fehlte. Sie machte eine Geste, die sagen sollte, dass er sich einen Platz aussuchen könne. Marthaler nickte. Ein Mann saß an einem Tisch am Fenster und hatte ihm den Rücken zugekehrt. Andere Gäste gab es nicht. Marthaler durchquerte den Raum und stellte sich hinter den Mann. «Sind Sie Professor Wagenknecht?»
Die Schultern des Mannes versteiften sich. Langsam drehte er sich um. «Wer möchte das wissen?»
«Mein Name ist Robert Marthaler. Ich bin Kriminalpolizist. Ich muss mit Ihnen über Gabriele Hasler sprechen.»
Die Miene des Zahnmediziners verfinsterte sich. Er war ein durchtrainierter Mittfünfziger, dessen schwarzes, kurz geschnittenes Haar sich auf der Kopfhaut kräuselte. Seine dichten Augenbrauen waren an der Nasenwurzel zusammengewachsen. Er deutete auf den Stapel Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen. «Ich muss mich auf mein Seminar vorbereiten», sagte er. «Ich habe wenig Zeit.»
«Ich auch», erwiderte Marthaler. «Dann wäre uns also beiden geholfen, wenn Sie meine Fragen rasch beantworten. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gerne zu Ihnen setzen und eine Kleinigkeit essen.»
«Das Essen hier taugt nichts.» Es schien den Professor nicht zu stören, dass die junge Kellnerin, die ihm gerade eine Rindswurst mit Senf und Kartoffelsalat brachte, seine Bemerkung hörte.
«Warum kommen Sie dann her?»
«Weil ich meine Ruhe haben will.»
Marthaler setzte sich. Er blätterte flüchtig die Speisekarte durch. Dann bestellte er einen gemischten Salat und ein alkoholfreies Bier.
«Und vor wem wollen Sie Ihre Ruhe haben?», fragte er.
«Vor den Kollegen, vor den Patienten, vor den Studenten. Und vor der Polizei.»
«Sie kannten Gabriele Hasler, und Sie wissen, was mit ihr geschehen ist», sagte Marthaler.
Der andere
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