Die Braut im Schnee
Moment wieder verschwunden. Marthaler rief ihm nach, dann spurtete er los. Er sprang über die Leitplanke und geriet ins Straucheln. Er ließ sich die Böschung hinunterrollen und stand wieder auf. Er versuchte sich zu orientieren, wusste nicht, wohin, kämpfte sich durch das Gestrüpp einer Brache. Über ein paar Erdhügel lief er in Richtung Großmarkthalle.
Dann merkte er, dass er keine Chance hatte. Es war zu dunkel, und es gab zu viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.Die wenigen Sekunden Vorsprung hatten Drewitz genügt. Er konnte sich ganz in seiner Nähe hinter einem Brückenpfeiler versteckt haben. Oder er konnte längst verschwunden sein. Schließlich sah Marthaler einen Mann, der auf der Eisenbahnbrücke eilig zu Fuß den Main überquerte. Er hatte keine Ahnung, wie man dorthin gelangte. Er musste aufgeben. Ich kenne die Stadt, dachte er, aber ich kenne sie noch immer nicht gut genug. Er beeilte sich, zurück zum Wagen zu kommen. Als Toller atemlos wieder zu ihm stieß, gab er gerade die Meldung durch, dass man die Fahndung nach Sachsenhausen verlagern solle.
«Am Schwedlersee hab ich ihn verloren», sagte Toller. «Er ist direkt an der Station der Wasserschutzpolizei vorbeigekommen. Er muss über die Bahnschienen gelaufen sein. Dann war er verschwunden. Ich hab es verpatzt.»
«Nein», sagte Marthaler, «wir haben getan, was wir konnten. Ich fahr dich zu deinem Wagen. Den Rest machen die Kollegen. Heute können wir hier nichts mehr ausrichten.»
NEUNZEHN
«Erste Frage: Stimmt es, dass die Polizei nur zufällig davon erfahren hat, dass Helmut Drewitz im Osthafen dieses Haus angemietet hatte? Zweite Frage: Was hat Drewitz in diesem Haus gemacht? Aus welchem Grund hat er es in die Luft gesprengt? Dritte Frage: Welche Fehler sind gemacht worden, dass Helmut Drewitz den Beamten entwischen konnte? Vierte Frage: Gehen Sie davon aus, dass es sich bei Helmut Drewitz um den Mörder Gabriele Haslers handelt? Ja oder nein? Fünfte Frage: Was hat dieser Fall mit dem Mord in Darmstadt zu tun?»
«Fünf Fragen, fünf Treffer.» Mit diesen Worten brachte eine junge Journalistin, die in Marthalers Nähe am Ende des Saals stand, ihre Bewunderung für den Leitwolf unter den Lokalreportern zum Ausdruck.
Der Redner blieb noch einen Moment stehen, um seine Fragen wirken zu lassen. Alle kannten ihn. Er hatte kurz geschnittenes graues Haar, das er schwarz färbte. Seine Jeans war schwarz, sein Hemd war schwarz, seine Weste war schwarz. Er trug nie etwas anderes. Auf keiner anderen Farbe hätte man seine Schuppen so deutlich gesehen.
Er hieß Arne Grüter und war der Chefreporter des «City-Express». Er war klein, kräftig, aber keineswegs dick. Er wies noch einmal mit seinem Stift in Richtung des Tisches, an dem Hans-Jürgen Herrmann saß und die Pressekonferenz im neuen Polizeipräsidium leitete. Dann ließ er den Arm mit gespielter Resignation sinken, so, als habe er sich mit seinen Fragen nur einer lästigen Pflicht entledigt, als gehe er nicht davon aus, auch nur eine halbwegs brauchbareAntwort zu erhalten. Sein Blick schweifte über die Köpfe seiner zahlreich erschienenen Kollegen, dann ließ er sich auf seinen Platz zurückfallen. Es war wie immer der erste Stuhl in der fünften Reihe direkt am Mittelgang. Kein anderer Journalist hätte es je gewagt, sich dort hinzusetzen. Wenn Grüter meinte, genug gehört zu haben, stand er mitten in der Konferenz auf und verließ den Saal, ohne jemanden anzuschauen.
Keiner mochte ihn, aber alle fürchteten ihn. Die Reporterkollegen wegen seiner Skrupellosigkeit, die nicht selten dazu führte, dass er ihnen um eine Nasenlänge voraus war. Die Polizisten wegen seiner Fragen, die oft genug die Grenze zur Unverschämtheit überschritten, die aber ebenso oft die wunden Punkte ihrer Arbeit trafen.
Der Saal war so dicht besetzt wie schon lange nicht mehr. Noch in der Nacht hatten die Agenturen gemeldet, dass Helmut Drewitz zur Fahndung ausgeschrieben war. Und bereits am Morgen brachten die lokalen Rundfunkstationen erste Sondersendungen, in denen das wechselvolle Leben des einstigen Starfotografen noch einmal vor dem Publikum ausgebreitet wurde. Da es sich bei dem Gesuchten um einen ehemaligen Kollegen handelte, war das Interesse der Journalisten besonders groß. Wie immer gefiel sich Hans-Jürgen Herrmann in der Rolle als Öffentlichkeitsarbeiter. Er schob seine randlose Brille zurecht und zeigte den Medienleuten ein feines Lächeln.
«Das sind viele Fragen auf einmal, aber ich
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