Die brennende Gasse
Gesichtsausdruck. Soeben wollte Janie an die offene Tür klopfen, hielt jedoch einen Moment inne, als sie erkannte, daß Mrs. Prives die Hand ihres Sohnes umklammerte und leise zu ihm sprach. Vielleicht störte sie …
Vermutlich kann er alles hören, dachte Janie traurig, während sie in einiger Entfernung stehenblieb, obwohl sie das erst sicher wissen konnte nach der Untersuchung des Gehörs des Jungen. Bis dahin würde die Mutter warten – auf irgendein Zeichen, daß er sie wahrnahm, auf irgendeinen Hinweis, daß der Junge, den sie gekannt hatte, wieder zum Vorschein käme. Janie wußte, daß sie sich dabei in zahlloser Gesellschaft befand; denn irgendwo auf der Welt wartete immer eine Mutter darauf, daß ihr Kind von irgend etwas zurückkehrte.
Vor demselben Krankenhaus hatte Jahre zuvor Janie selbst gestanden, vor einem hastig errichteten Zaun, einer grausamen Folge des Kriegsrechts, das weder sie noch sonst eine der Personen neben ihr in den Jahren vor dem Ausbruch von MR SAM je erlebt hatte. Während ihres ganzen Lebens hatte es innerhalb des Landes keine Kriege oder Aufstände gegeben, doch der Zaun als solcher wirkte wie eine feindliche Invasion. Die verhaßte Barriere hatte ihre schmutzige Arbeit getan und war inzwischen längst abgebaut worden; doch ihr Anblick blieb für immer in Janies Erinnerung eingebrannt. Sie und Hunderte von anderen hatten um Einlaß gebettelt und gefleht; doch sie wurden von den schußbereiten Waffen der Polizisten, die dieselbe Angst schüttelte wie die Menge vor ihnen, in Schach gehalten. Viele Menschen auf beiden Seiten hatten Angehörige in diesem Krankenhaus – oder Freunde oder Kollegen, di e p lötzlich den Killer-Bakterien zum Opfer gefallen waren. MR SAM hatte alles verändert, überall und fast für jedermann; mittlerweile hatten sich die Umstände zwar gebessert und das Leben war normaler geworden, aber nie wieder würde es wie früher sein.
Sie stand an der Tür zum Zimmer des Prives-Jungen und wartete darauf, daß drinnen etwas geschah. Dabei rieb sie gedankenverloren an der Injektionsstelle in ihrer Handfläche, während Erinnerungen an jene dunklen Tage von neuem in ihr aufstiegen. Ihre Sinne spielten ihr einen psychologischen Streich, und alles wirkte wieder ganz real: der kalte Maschendraht des Metallzaunes, der feuchte, metallische Geruch, den er an ihren Fingern hinterließ, die blinkenden Lichter der Ambulanzwagen, die hintereinander langsam die State Route 9 zum Hospital rollten und das provisorische Krematorium ansteuerten, das noch nicht abgerissen worden war. An Regentagen glaubte Janie manchmal, den Geruch der Leichen in der Luft zu spüren, die man verbrannt hatte, damit die Geißel, die sie vernichtet hatte, sich nicht ausbreitete. Aber es war doch passiert, und an manchen Orten existierte sie noch immer. Sie würde niemals ganz unter Kontrolle gebracht werden. Höchstens unterdrückt.
Eine von diesen Leichen war ihr einziges Kind, das nicht zurü ckk ehren würde, wie lange Janie auch warten mochte.
Sie ließ noch einige Sekunden vergehen und klopfte dann leise. Die Mutter drehte sich nach ihr um.
Zögernd sagte Janie: » Mrs. Prives? «
Ein hoffnungsvolles Nicken.
» Ich bin Janie Crowe von der New Alchemy Foundation. Wir, eh … «
Mrs . Prives, eine Frau mit leicht birnenförmiger Figur, ergrauendem Haar und Brille mit dicken Zweistärkengläsern, stand in Windeseile auf und strich sich mit einer nervösen Geste den Rock glatt. » Oh, ja «, sagte sie mit schwacher Stimme.
Janie blieb auf der Schwelle stehen und wußte nicht, was sie tun sollte. Mrs. Prives winkte mit der Hand. » Bitte. Kommen Sie herein. «
» Ich möchte nicht stören … «
Ein angedeutetes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Frau.
» Ich habe doch ein Kind. Da ist man allerhand gewöhnt. « Si e w andte sich wieder ihrem Sohn zu. » Abe ist nicht – wach, ich glaube nicht – also werden Sie ihn ohnehin nicht stören. «
Janie erwiderte das Lächeln, als sie an das Bett trat. » Man weiß nie. Hoffentlich störe ich ihn. Und ich hoffe auch, daß wir bald wissen werden, ob er uns bemerkt oder nicht. «
Mrs. Prives sah ihren Sohn an und dann wieder Janie. » Das wäre sicher ein Fortschritt. Haben Sie irgendwelche neuen – ich meine, gibt es Neuigkeiten? «
Janie wußte, was sie fragen wollte. Es machte sie traurig, daß Leute oft meinten, sich entschuldigen zu müssen, wenn sie nach Informationen hungerten. Wie kam es, daß diese Scheu sich so
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