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Die brennende Gasse

Die brennende Gasse

Titel: Die brennende Gasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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eines gejagten Tiers. » Ihr seid wahnsinnig «, zischte er.
    Aber da war sie wieder Alejandros Tochter und sich der Natur ihrer Tat voll bewußt. » Sagt es nicht zu laut, Karle «, flüsterte sie, während sie sich faßte. » Gott wird Euch sonst hören. Ihr müßt mir glauben, daß dieser Fund unser Glück ist – denn wir werden ihn vielleicht einmal brauchen. « Sie hielt das Bündel auf Armeslänge von sich. » Aber ein noch größeres Glück ist, daß es nicht mehr stinkt. «
     
    A lejandro schaute aus dem kleinen Fenster seiner Dachstube in der Rue des Rosiers zu, wie eine alte Frau in einfachem grauem Kleid und weißer Schürze den Tag mit einem Besen in der einen samt Eimer in der anderen Hand begrüßte. Zuerst fegte sie die Ausscheidungen der Nacht von den Steinen, entfernte sie entschlossen von ihren Türstufen und verbannte die widerwärtigen braunen Häufchen murmelnd in den Rinnstein. Dann leerte sie ihre Eimer über denselben Steinen aus und schrubbte sie voller Hingabe, damit nichts Schädliches überlebte. Alejandro hatte sie am Vortag und auch am Tag davor dasselbe tun sehen.
    Wären die Einwohner Londons nur auch so auf Sauberkeit bedacht, dachte er bedauernd, dann hätten vielleicht mehr überlebt … Doch bei der ersten Welle des Schwarzen Todes waren ebenfalls viele Pariser umgekommen, trotz der relativen Sauberkeit der Stadt; also konnte er den Schmutz Londons nicht gänzlich für die Verheerungen verantwortlich machen, die dort stattgefunden hatten. Viele behaupteten, die Engländer seien eine andere Art Menschen als die Franzosen, wilder, einige sagten sogar etwas von barbarisch. Und tatsächlich konnte er sich nicht erinnern, je eine Engländerin gesehen zu haben, die dem allgegenwärtigen Dreck auf dem Kopfsteinpflaster mit solcher Vehemenz zu Leibe gerückt wäre wie diese ältliche Pariserin. Aber er stimmte der in Frankreich weitverbreiteten Auffassung nicht zu, die Engländer seien ein träges Volk, denn anderen Mißständen begegneten sie höchst energisch.
    Den Franzosen zum Beispiel. So oft wie möglich. In seiner Dachstube sah er bekümmert vor sich hin.
    Jetzt war die Alte damit beschäftigt, die Läden zu öffnen, die ihre runden und eckigen Käse in der Nacht vor allerhand Gesindel schützten. Durch die kriegsbedingte Knappheit waren Nahrungsmittel teuer, und eine großzügige Portion Käse stellte einen Luxus dar, den sich nur die sehr Reichen oder die sehr Gerissenen gönnen konnten. Der durchdringende Käseduft, der nun frei wurde, breitete sich in der Straße aus und erreichte auch Alejandros Dachfenster; das war für ihn Anreiz genug, um die Spinnweben und das feuchte Stroh seines vorübergehenden Verstecks zu verlassen und sich auf die Suche nach etwas Eßbarem zu begeben.
    Über dem winzigen Laden hing ein großes, keilförmiges Holzbrett, das gelb angemalt war und die geschnitzte Inschrift fromage trug. In den Vertiefungen klebten Staub und Schmutz, denn die alte Frau konnte das Schild nicht erreichen, um es zu säubern. Er dachte einen Moment lang daran, sich für diese Aufgabe anzubieten. Damit hätte er ihr einen großen Gefallen getan, und trotz seines schweren Schicksals war Alejandro noch immer ein freundlicher Mensch.
    Doch er hielt sich zurück, das Angebot tatsächlich zu machen – denn diese Freundlichkeit hätte bewirkt, daß er sich dem Gedächtnis der alten Frau einprägte. Seit seiner Ankunft in Paris hatte Alejandro es sorgfältig vermieden, zweimal dasselbe zu tun, um nicht die Aufmerksamkeit von jemandem zu erregen, der müßig das Kommen und Gehen der Bewohner dieses speziellen arrondissements beobachtete. Abgesehen von den Eintragungen in Abrahams Buch war das alles, was er selbst zu tun hatte; und er war erstaunt, was er alles bemerkte, wenn er Zeit zum Beobachten hatte: die mürrische junge Frau, die immer wieder Herren einlud, mit ihr die dunkle Treppe hinaufzusteigen, den ganzen Tag lang und bis tief in die Nacht; die rauflustigen Knaben, die mit Stöcken spielten und einander beim ansonsten harmlosen Wettstreit oft blutige Kratzer zufügten; die scheue Witwe in schwarzem Kleid, die ein schniefendes Kind an der Hand führte und einen Korb trug, der immer schrecklich leer schien. All diese Menschen waren ihm jetzt vertraut, obwohl er sich erst ein paar Tage in dieser Umgebung aufhielt. Wie lange würde es dauern, bis sie ihn bemerkten und sich zu wundern begannen?
    Am Vortag hatte er die süße Stimme eines kleinen Mädche n g ehört – sie

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