Die Breznkönigin: Roman (German Edition)
die Derbolfinger Mehrzweckhalle, wo der Papa den Fußballern im Winter manchmal beim Training zuschaut. Immer mehr Details bemerke ich, die mir sonst nie aufgefallen sind: ein antiker Traktor, der in einem Garten verwittert, eine Armada Gartenzwerge, ein amerikanischer Briefkasten, der wie ein kleines Aluminium-Ufo in der Landschaft steht.
» Mingading die näxte«, brummelt der Fahrer plötzlich durchs Mikrofon und tritt nur eine Sekunde später auf die Bremse.
Verdammt.
Ich hab natürlich gewusst, dass die Haltestelle kommt, aber jetzt bin ich trotzdem erschrocken. Ich hab mich überhaupt nicht darauf vorbereitet, was ich sagen soll, wenn ich gleich daheim bin. In Windeseile raffe ich meine Jacke und meine Tasche zusammen, stolpere durch den engen Gang nach vorne und aus dem Fahrzeug. Der Bus fährt los und an mir vorbei.
Mingharting. Da ist es.
Die Haltestelle ist nicht mitten im Dorf, sondern an dessen Rand, was ich schon als Schülerin nie besonders praktisch fand, denn unser Wirtshaus befindet sich am anderen Ende der Ansiedlung, sodass ich stets den längsten Schulweg von allen hatte. Heute finde ich diese Tatsache immer noch nicht so super, aber aus anderen Gründen als damals. Ich muss durchs ganze Dorf hindurch, wahrscheinlich immer noch nach Berlin riechend und zerfleddert wie nach einer verlorenen Schlacht. Keine verlockende Aussicht.
Aber es hilft ja nix.
Ich setze mich in Bewegung und trotte durch den Ort, vorbei am Dorfweiher, am Maibaum, am Kircherl und am Edeka, und dann immer weiter die Hauptstraße entlang. Zum Glück ist um die Mittagszeit kaum einer unterwegs, außer der Messmer-Omi, aber die ist dement und hat mich entweder nicht erkannt oder gar nicht bemerkt, dass ich überhaupt je weg gewesen bin. Ich laufe an Häusern vorbei, in deren Gärten ich früher einfach so gespielt habe – so ein Dorf ist ja quasi Kollektiveigentum, da wäre im Traum keiner auf die Idee gekommen, sich zu beschweren. Die Bebauung wird langsam lockerer, die Abstände zwischen den Häusern größer, und dann erscheint es plötzlich vor mir: unser Wirtshaus. Es sieht aus, als wäre ich keine zehn Minuten lang weg gewesen. Die Blumenkästen voller Geranien, die Gardinen hinter den Fenstern, der schmiedeeiserne Schaukasten für die Speisekarte, der bösartige Mülleimer von Langnese. Das Ganze ist zu hundert Prozent genau so wie immer, und möglicherweise ist genau das der Grund für das, was als Nächstes mit mir passiert. Alles in mir zieht sich zusammen, aber diesmal wörtlich, und dann muss ich mich übergeben. Ich kotze direkt in die Hecke, die den Parkplatz von der Straße trennt, einfach so, ohne Vorwarnung. Einmal, zweimal, dreimal schießt es aus mir heraus, dann ist es vorbei und ich stehe wieder aufrecht. Ich ziehe ein Tempo aus der Tasche, wische mir den Mund ab und betrachte verwundert die kleinen Käsebreznstücke, die da unten in den Zweigen kleben.
Dann blicke ich wieder auf das Wirtshaus. Irgendetwas in mir sträubt sich dagegen, dort hineinzugehen, und doch habe ich das Gefühl, es tun zu müssen. Ich brauche eine Auszeit. Ein paar Tage, in denen nichts passiert, in denen die Erde einfach eine Weile lang stillsteht. Das hier ist der Ort dafür. Hier kann ich mich verkriechen.
Ich blicke hoch zu meiner Wohnung im Dachgeschoss und muss plötzlich daran denken, wie der Quirin hier unten stand und telefonierte und ich neugierig das Fenster öffnete, um zu hören, was er spricht. Niemals hätte ich damals gedacht, was in dem Jahr, das darauf folgte, passieren würde. Wie unschuldig ich damals war! Ich bin ein ganz anderer Mensch gewesen.
Plötzlich laufen mir schon wieder die Tränen übers Gesicht. Mein Gott, ich hab so viel geheult in den letzten zwei Tagen. Echt kein Wunder, dass ich so fertig bin.
Komm, Fanny. Du musst dich nur ein bisschen ausruhen. Und dann gehst du wieder zurück. Ob mit Tino oder ohne, ob mit den Minghartinger Stuben oder nicht. Berlin hat dir gutgetan. Du musst nur wieder die Kraft dafür finden. Niemand hat behauptet, dass es einfach wird.
Ich brauche eine ganze Weile, bis ich die Tränen weggekämpft habe, aber ich kann da auf gar keinen Fall heulend reinmarschieren, deshalb reiße ich mich kräftig zusammen. Ich atme ein und beschließe, jetzt endlich hineinzugehen und nicht mehr länger wie ein Stalker hier draußen herumzustehen. Da öffnet sich plötzlich die Tür vom Wirtshaus.
Es ist der Bürgermeister, der – offenbar voll wie ein Wikinger – aus den
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