Die Brillenmacherin
»Kümmert es dich nicht?«
»Nein, May. Mich kümmert dieses Dorf nicht und du nicht und Gott nicht. Ich bin frei geworden, ohne daß ich es wollte, Nevills Reiter haben mich vom Leben befreit. Verstehst du? Ich brauche jetzt nicht mehr zu arbeiten, auch weinen muß ich nicht. Ich kann verhungern und sterben, und es schmerzt mich kein bißchen.«
»Aber mich schmerzt es.«
Ein Stechen in seinem Inneren.
»Was wird jetzt aus uns?«
Sie hatte nie zuvor so etwas gesagt. Erschrocken sah Alan sie an. Hatte er nicht längst alles verloren? Gab es da noch mehr zu verlieren, noch mehr Schmerzen zu erleiden? Er besaß kein Haus mehr und kein Pferd, keine Saat und keinen Mut. Aber offenbar besaß er die Zuneigung Mays. »Ich wußte nie, ob du mich anders magst, als du all die Knechte und Bauernsöhne gern hast, ich meine, du lachst mit ihnen allen und machst deine Scherze, und sie schauen dir hinterher, und ich dachte –«
»Ich habe einmal deine Hand gehalten.«
»Das war vor vier Monaten und ist seitdem nicht wieder geschehen.«
»Weil ich mich gefürchtet habe, sie wieder zu nehmen. Du hast meine auch nicht genommen.«
|106| Alan staunte in ihr Gesicht hinab. Mays schmaler Nasenrücken erbleichte unter den Sommersprossen, ihre Wangen röteten sich. Sie kämpfte darum, seinem Blick standzuhalten, biß sich auf die Unterlippe. Schließlich sah sie zu Boden. Alan wollte ihre Schultern ergreifen und sie an sich ziehen. »Seit unserer Begegnung im Winter bist du mein erster Gedanke, wenn ich am Morgen die Augen aufschlage. Ich denke an dich hinter dem Pflug, ich denke an dich beim Korndreschen, beim Holzhacken. Bevor ich einschlafe am Abend, ist mein letzter Gedanke, was du wohl gerade tust.«
»Ich weiß.«
»Du hast auch an mich gedacht?«
Sie nickte.
»Du siehst aus, als würdest du dich dafür schämen.«
»Ich schäme mich nicht. Ich habe nur ein bißchen Angst.«
»Dein Vater will es nicht.«
»Er schlägt mir jeden Abend einen anderen wohlhabenden Bauernsohn vor. Immer lehne ich ab. Einmal werde ich nachgeben müssen.«
»Schafe wollte ich mir kaufen. Ich wollte es zu etwas bringen, damit dein Vater mit mir zufrieden sein kann.«
»Er ist geizig. Ich wünschte, er würde dich so mögen, wie ich dich mag.«
Lächelnd streckte Alan die Hand nach ihrem Gesicht aus, wagte aber nicht, es zu berühren. Die Fingerspitzen hingen in der Luft neben Mays Wange. Ihm schlug das Herz im Hals, er hielt die Luft an und rührte sich nicht.
Kaum merklich neigte sie den Kopf zur Seite, weiter, weiter, bis ihre Wange seine Fingerspitzen traf. Sie schmiegte sich an seine Hand, und seine Hand schmiegte sich an ihr Gesicht.
Irgendwann löste sich May. Alans Hand fiel an ihrem Kleid herab, streifte noch kurz den Bauch, dann hing sie wieder an seiner Seite. Es würde nie wieder dieselbe Hand sein. Ihm war, als sei sie ein Stück von ihr geworden. Sie gehörte nicht zu seinem Körper. Sie war fremd wie ein Geschenk.
»Das war sehr schön«, flüsterte May.
|107| »Ja, das war es.«
»Ich wünschte, wir könnten mehr füreinander sein.«
»Gibt es keinen Weg, deinen Vater zu überzeugen?«
»Wenn es nur das wäre, das würden wir schaffen. Aber es ist zu spät dafür. Du mußt fortgehen von hier, Alan. Es ist bekanntgeworden, daß du dich beim Erzbischof über Nevill beschwert hast. Ich bin gekommen, um dich zu warnen.«
»Zu Recht habe ich mich beschwert. Seine Reiter haben mir das Haus zerstört.«
»Ob zu Recht oder zu Unrecht! Hast du denn nicht gehört, was Vater über ihn gesagt hat?«
»Nun, ich habe es inzwischen erlebt. Es fällt mir nicht mehr schwer, ihm zu glauben.«
»Nichts hast du erlebt. Fliehe! Wenn du bleibst, wird man dich aufknüpfen.«
»Aufknüpfen? Warum?«
»Bitte, geh fort, tue es für mich. Willst du, daß mir das Herz bricht? Sie werden verbieten, daß man dich abnimmt, und ich werde dich Tag für Tag hängen sehen, und am Ende stürze ich mich in den Fluß. Wenn ich denken kann, du bist irgendwo im Norden an der Grenze zu Schottland und es geht dir gut, dann bete ich für dich und erinnere mich wehmütig an diesen Augenblick. Ich vergesse dich nicht. Nur rette dich, heute noch!«
Das verbrannte Haus und der steinige Acker erschienen ihm plötzlich kostbar. Er schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht.«
»Sie können jeden Augenblick hier sein.«
»Dann verstecke ich mich eben im Wald, bis sie wieder gegangen sind.«
»Du weißt wie ich, daß sie dich finden.«
»Wenn sie mich töten
Weitere Kostenlose Bücher