Die Brillenmacherin
Leder knarrte. Die Steigbügel boten den Füßen Halt.
|100| Im Halbdunkel des Stalls glühte das Gesicht Gonoras. Sie reichte stumm eine Provianttasche herauf. Selbst im Zorn war sie mütterlich. Möglicherweise zürnte sie nicht einmal, weil sie meinte, Anne würde einen Fehler machen, sondern nur, weil sie nicht eingeweiht wurde. Ging es nach Gonora, durften zwischen einer Herrin und ihrer Kammerfrau keine Geheimnisse stehen. Ha! Sie einzuweihen! Gonora glaubte vielleicht, mit jedem Geheimnis leben zu können. Nichts ahnte sie. Es gab Geheimnisse, die in der Lage waren zu töten.
Anne schnalzte leise. Bis ins Becken spürte sie die Huftritte der Stute auf dem harten Stallboden. Am Torflügel lehnte der Knecht, er deutete eine Verbeugung an, als sie vorüberritt. Anne hatte Thomas ausrichten lassen, daß sie verreiste, aber er kam nicht, um sie zu verabschieden. Zwecklos, sich auf dem Hof nach ihm umzusehen. Die Kanzlei war ihm wichtiger. Sie war wie eine heimliche Geliebte.
Unwillig versteifte Anne den Hals, übte einen leichten Fersendruck aus, die Stute trabte an. Unter dem Torhaus hindurch, neben die Karpfenbecken.
Wie kam es, daß sie gerade diesen Mann liebte und keinen anderen? Die Menschen ähnelten einander: zwei Augen, eine Nase, der Mund. Oft genug heirateten zwei, ohne sich voneinander angezogen zu fühlen. Warum war sie ausgerechnet an Thomas geraten, der sie in jedem Winkel ihrer Bauchhöhle beherrschte? Sie hätte eine gleichgültige Ehe haben können, hätte sich kleinen Festen oder der Lektüre oder der Musik hingeben können, der Kunst, der Wissenschaft, hätte Briefe schreiben und Freundinnen besuchen können. Nichts interessierte sie, nur Thomas, Thomas! Warum?
Wie hatte sie sich damals verliebt?
Zuerst waren ihr die kurzen Haare aufgefallen. Ein Ritter seines Standes, der sich die Haare abschneiden ließ – das hatte sie neugierig gemacht. Nahm er nicht wahr, daß er damit vollkommen die Mode mißachtete, ja, daß er sich gemein machte mit den verarmten Landrittern, die allerorten verachtet wurden? Thomas, das stellte sich bald heraus, war ein Mann, der |101| seinen eigenen Regeln folgte. Er hatte es nicht nötig, die Moden des Hofes nachzuahmen.
Dann bemerkte sie seinen Freundeskreis. Genau die Freunde, die ihn ihr jetzt gestohlen hatten. Zuerst sah sie ihn bei der Geburtstagsfeier der Königin im Gespräch mit Montagu, dessen Waffenrock der halberhobene Greif zierte. Die rote Zunge und die roten Krallen am geflügelten Löwentier verkündeten einen über die Landesgrenzen hinaus berühmten Dichter, Mitglied des Hosenbandordens, zu dem sich der König und wenige angesehene Ritter zählten. Er war für sie damals eine Legende gewesen, ein Mann von kultiviertem Geschmack, der alles Französische liebte, ein Poet mit bestem Ruf; seine Balladen, Lieder, Rondelle rezitierte man – den Krieg mißachtend – in den besten Adelshäusern Englands wie Frankreichs. Dieser Mann gab sich mit Thomas Latimer ab? Es fachte ihre Neugier an. Später sprach Thomas mit William Nevill und John Cheyne, sie lachten und schlugen sich auf die Schultern, sie mußten Freunde sein.
Was scherte diese Recken ein Thomas Latimer? Das wollte sie herausfinden. Es wunderte sie, es ließ Thomas in einem geheimnisvollen Licht erscheinen. Als sie den Grund entdeckte, war sie ihm bereits selbst verfallen. Thomas Latimer atmete Wahrheit. Auch wenn er oft schwieg, in seinen kühlen, zwischen Grau und Blau schwebenden Augen leuchtete die Kraft eines Auserwählten. Er war ein Suchender, einer, der zum Kern der Dinge vordrang, weil ihn eine besondere Gabe lenkte.
Wie schwach Thomas war und daß er auch in die Irre laufen konnte, bemerkte sie zu spät.
Hinter der Brücke, als sie Braybrooke im Rücken hatte, zügelte Anne die Stute und ließ sie im Schritt gehen. Die klare Septemberluft gab ihr das Gefühl, ihre Gedanken seien von kristallener Schärfe. Sie fühlte sich frei.
Die Fische schnappten nach Insekten und tauchten mit einem klatschenden Schlag der Schwanzflosse wieder ab. Schafe blickten ihr nach, ohne das Käuen zu unterbrechen.
|102| Irgendwann war ihr aufgefallen, daß sich hinter Thomas’ festem Zauberblick eine weiche Seele verbarg. Die Furchen, die von den Nasenflügeln zum Kinnbart hinabliefen und ihm ein würdevolles, kluges Aussehen gaben, dieses Gesicht, das sie in jeder Winzigkeit liebte, es konnte staunen, es konnte erschrecken und verzweifeln. In all seiner Konsequenz war Thomas ein schwacher Mensch.
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