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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Dreharbeiten vergewaltigt. Vom Regisseur, vom Kameramann, von der halben Crew.»
    «O Gott.»
    «Die haben sie übel zugerichtet, Nathan. Am Ende hat sie so stark geblutet, dass sie ins Krankenhaus musste.»
    «Diese Schweine könnte ich glatt umbringen.»
    «Ich auch. Oder wenigstens dafür sorgen, dass sie ins Gefängnis kommen, aber sie hat auf eine Anzeige verzichtet. Sie wollte nur noch weg, nur noch raus aus New York. Sie hat sich bei mir gemeldet. Hat mir über die englische Fakultät der Uni einen Brief geschrieben, und als mir klar wurde, in was für Schwierigkeiten sie steckte, rief ich sie an und sagte, sie könne mit Lucy nach Michigan kommen und bei mir wohnen. Sie ist ein guter Mensch, Nathan. Das weißt du. Das weiß ich. Das weiß jeder, der je in ihre Nähe gekommen ist. Sie ist absolut in Ordnung. Ein bisschen überdreht vielleicht, ein bisschen eigensinnig, aber von Grund auf harmlos und vertrauensvoll, weniger zynisch als sie kann kein Mensch sein. Gut für sie, dass sie sich nicht geschämt hat, in der Pornobranche zu arbeiten. Ihr hat das Spaß gemacht. Spaß! Kannst du dir das vorstellen? Sie hat gar nicht mitbekommen, dass in diesem Geschäft nur Schweine arbeiten, der übelste Abschaum des Universums.»
    So gelangten Aurora und die dreijährige Lucy in den Mittleren Westen und zogen zu Tom in die beiden oberen Stockwerke des von ihm gemieteten Hauses. Aurora hatte vorher gutes Geld verdient, aber das meiste war für Miete, Kleider und das Kindermädchen für Lucy draufgegangen, und jetzt waren ihre Ersparnisse praktisch erschöpft. Tom hatte sein Stipendium, aber mehr als ein beschränktes Studentenleben war nicht drin, und damit es überhaupt reichte,hatte er einen Teilzeitjob an der Unibibliothek angenommen. Sie überlegten, ob sie ihren Vater in Kalifornien anrufen und um ein Darlehen bitten sollten, entschieden sich aber am Ende dagegen. Das Gleiche mit ihrem Stiefvater in New Jersey, Philip Zorn. Rorys Aggressivität als Teenager hatte sich verheerend auf das Familienleben ausgewirkt, und sie wollten sich nicht an einen Mann wenden, der seit den Schlachten jener Tage nichts als Verachtung für seine Stieftochter empfand. Tom erwähnte das seiner Schwester gegenüber nie, aber er wusste, dass Zorn Aurora insgeheim für den Tod ihrer Mutter verantwortlich machte. Sie hatte June lange Zeit in Aufruhr und Verzweiflung versetzt, und die einzige Wiedergutmachung für all dieses Leid war das unverhoffte Geschenk gewesen, ihre kleine Enkelin bei sich aufnehmen zu können. Dann wurde ihr auch die wieder genommen, und Zorn glaubte, der Schmerz über die Trennung von dem Kind habe sie umgebracht. Eine sentimentale Deutung, mag sein, aber ebenso gut konnte er auch Recht haben. Um ganz ehrlich zu sein, mir ist dieser Gedanke am Tag der Beerdigung auch gekommen.
    Statt um Almosen zu betteln, besorgte Rory sich einen Job als Kellnerin im teuersten französischen Restaurant der Stadt. Sie hatte keine Erfahrung, gewann den Inhaber aber mit ihrem Lächeln, ihren langen Beinen und ihrem hübschen Gesicht, und da sie ein kluges Mädchen war, lernte sie rasch und hatte den Bogen schon nach wenigen Tagen raus. Das mochte im Vergleich zu ihrem Hochspannungsleben in New York ein großer Abstieg sein, aber Aufregung war jetzt das Letzte, was Aurora suchte. Ernüchtert und zerschlagen, noch immer verfolgt von dem Abscheulichen, das man ihr angetan hatte, ersehnte sie nichts mehr als eine langweilige, ereignislose Atempause, eine Chance, wieder zu Kräften zu kommen. Tom erzählte von Albträumen, vonplötzlichen Weinkrämpfen, von Phasen, in denen sie nur noch schwieg. Trotz alledem waren ihm die Monate, die sie bei ihm wohnte, auch als glückliche Zeit in Erinnerung, als eine Zeit großer Solidarität und gegenseitiger Anteilnahme, und jetzt, wo er seine Schwester zurückhatte, erwartete ihn das nie nachlassende Vergnügen, wieder einmal die Rolle des großen Bruders übernehmen zu können. Er war ihr Freund und Beschützer, ihr Ratgeber, ihre Stütze, ihr Fels.
    Als Aurora mit der Zeit ihren alten Schwung und Elan wiedererlangte, begann sie davon zu reden, dass sie den High-School-Abschluss nachmachen und aufs College gehen wolle. Tom ermutigte sie, den Plan zu verfolgen, und versprach ihr, bei der Arbeit zu helfen, falls ihr irgendetwas über den Kopf wachsen sollte. Es ist nie zu spät, sagte er immer wieder, es ist nie zu spät, noch einmal von vorn anzufangen, aber in gewisser Hinsicht war es das doch.

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