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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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kündigt!»
    «Dann kündigt sie eben», sagte der Inhaber des Cosmic Diner. «Das ist mein Restaurant, und ich lasse mir von niemand sagen, was ich in
meinem Restaurant
zu tun habe. Ohne meine Kundschaft habe ich nichts. Also schwing deinenArsch hier raus und sag Marina, sie ist gefeuert. Ich will sie nicht mehr sehen. Und du – wenn du dich nochmal hier blicken lässt, hol ich die Polizei.»
    Nun kam es zu einer kleinen Schubserei, aber so kräftig und muskulös Gonzalez auch sein mochte, Dimitrios war einfach eine Nummer zu groß für ihn, und so suchte Marinas Mann nach einem abschließenden Hin und Her von Drohungen und Gegendrohungen dann endlich das Weite. Der Idiot hatte seine Frau um ihren Job gebracht. Aber was für mich noch schwerer wog – sehr viel schwerer: Ich würde sie wahrscheinlich nie wiedersehen.
    Als die Ruhe im Lokal wiederhergestellt war, kam Dimitrios an meinen Tisch und setzte sich. Er bat um Entschuldigung für die Störung und sagte, mein Essen ginge diesmal aufs Haus, doch als ich ihn zu überreden versuchte, Marina nicht rauszuschmeißen, blieb er hart. Die Nummer mit der Kette in der Kasse habe er gern mitgemacht, aber Geschäft sei Geschäft, sagte er, und obwohl er «verdammt viel» von Marina halte, sei ihm die Sache mit ihrem durchgeknallten Ehemann zu brenzlig. Dann sagte er etwas, das mich traf wie ein Brandeisen. «Machen Sie sich keine Gedanken», sagte er. «Das ist nicht Ihre Schuld.»
    Aber es war meine Schuld. Die Verantwortung für diese Schweinerei lag bei mir, und ich konnte für das, was ich der armen Marina angetan hatte, nur Abscheu vor mir selbst empfinden. Sie hatte das Geschenk instinktiv nicht annehmen wollen. Sie kannte ihren Mann, aber statt mir ihre Worte zu Herzen zu nehmen, hatte ich sie gezwungen, die Kette zu behalten, und diese Dummheit, diese riesengroße Dummheit hatte den ganzen Ärger heraufbeschworen. Der Teufel soll mich holen, dachte ich, er soll mich in die Hölle stoßen und tausend Jahre schmoren lassen.
    Das war meine letzte Mahlzeit im Cosmic Diner. Beimeinen Spaziergängen auf der Seventh Avenue komme ich immer noch täglich daran vorbei, aber bis heute habe ich nicht den Mut gefunden, wieder dort einzukehren.

KRUMME TOUREN
    A m Abend dieses Donnerstags traf ich mich mit Harry in Mike & Tony’s Steak House an der Kreuzung Fifth Avenue und Carroll Street. In diesem Restaurant hatte er Tom zwei Monate zuvor seine beunruhigenden Geständnisse gemacht, und er schlug es wohl deswegen vor, weil er sich dort wohl fühlte. Die vordere Hälfte des Lokals war eine einfache Kneipe, wo man geradezu aktiv zum Rauchen von Zigaretten und Zigarren ermuntert wurde und auf einem großen, an der Wand neben dem Eingang angebrachten Fernseher Sportübertragungen verfolgen konnte. Durchquerte man diesen Raum und öffnete die mit dicken Scheiben verglaste Doppeltür, fand man sich in einer vollkommen anderen Umgebung wieder. Das Restaurant bei Mike & Tony’s war ein kleines Zimmer, mit Teppichen auf dem Boden, Bücherregalen, ein paar Schwarzweißfotos an der Wand und acht bis zehn Tischen. Mit anderen Worten: ein stilles, intimes Plätzchen, das noch den zusätzlichen Vorteil einer leidlichen Akustik bot, die einem erlaubte, sich selbst mit gedämpfter Stimme vernehmlich zu machen. Für Harry war dieses gemütliche Zimmer offenbar so etwas wie ein Beichtstuhl. Auf alle Fälle schüttete er hier gern sein Herz aus – erst Tom und jetzt mir.
    Er konnte nicht wissen, dass mir von seinem Leben in der Zeit vor Brooklyn mehr als ein paar grobe Fakten bekannt waren: geboren in Buffalo, Exmann von Bette, Vater von Flora, Gefängnisstrafe. Er wusste nichts davon, dass ich von Tom bereits eine Menge Einzelheiten erfahren hatte,und ich hatte nicht vor, ihm das mitzuteilen. Also stellte ich mich ahnungslos, als Harry mir von der längst bekannten Gaunerei mit den Alec-Smith-Bildern und seinem Zerwürfnis mit Gordon Dryer erzählte. Anfangs begriff ich gar nicht, warum er mir das alles anvertraute. Was hatte das mit seinem aktuellen Geschäft zu tun? Ich grübelte hin und her, und als ich zu keinem Ergebnis kam, fragte ich Harry schließlich ganz direkt danach. «Nur Geduld», sagte er. «Das wird dir schon noch klar werden.»
    Zu Beginn unserer Mahlzeit sagte ich nicht viel. Der Eklat am Mittag im Cosmic Diner hatte mich schwer erschüttert, und während Harry mit seiner Geschichte vorankam, schweiften meine Gedanken immer wieder zu Marina, ihrem schwachsinnigen Ehemann

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