Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
ich weiß. Für meinen Geschmack ist das auch ein bisschen zu viel Heimlichtuerei. Trotzdem, es scheint jetzt voranzugehen. Wir haben einen Käufer gefunden, und vor zwei Wochen haben wir ihm eine Probeseite geliefert. Ob du’s glaubst oder nicht, er ist damit zu einer Reihe von Experten gegangen, und die haben alle die Echtheit bestätigt. Ich habe gerade einen Scheck über zehntausend Dollar von ihm bekommen. Als Anzahlung, damit wir das Manuskript nicht noch anderweitig anbieten. Die Transaktion soll abgeschlossen werden, wenn er nächsten Freitag aus Europa zurückkommt.»
    «Und wer ist der Käufer?»
    «Ein Wertpapierhändler, sein Name ist Myron Trumbell. Ich habe Erkundigungen über ihn eingezogen. Ein Aristokrat von der Park Avenue, der Mann schwimmt in Geld.»
    «Wie ist Gordon auf ihn gestoßen?»
    «Er ist ein Freund seines Freundes, des Mannes, mit dem Gordon jetzt zusammenlebt.»
    «Den du auch noch nie gesehen hast.»
    «Richtig. Und ich will ihn auch nicht sehen. Gordon und ich sind ein heimliches Liebespaar. Wozu sollte ich meinen Rivalen kennen lernen?»
    «Ich glaube, du gehst da in eine Falle. Die wollen dich reinlegen.»
    «Mich reinlegen? Wie meinst du das?»
    «Wie viele Seiten des Manuskripts hast du gesehen?»
    «Nur diese eine. Das Blatt, das ich Trumbell vor zwei Wochen gegeben habe.»
    «Und wenn es mehr gar nicht gibt, Harry? Wenn es gar keinen Ian Metropolis gibt? Wenn Gordons neuer Freund sich als niemand anders als Myron Trumbell entpuppt?»
    «Ausgeschlossen. Warum sollte jemand sich diese ganze Mühe machen   …»
    «Aus Rache. Den Spieß umdrehen. Wie du mir, so ich dir. All die wunderbaren Dinge, für die der Mensch so berühmt ist. Ich fürchte, dein Gordon ist nicht das, wofür du ihn hältst.»
    «Das ist mir zu finster, Nathan. Ich weigere mich, das zu glauben.»
    «Hast du Trumbells Scheck eingezahlt?»
    «Den habe ich vor drei Tagen zur Bank gebracht. Und ich habe bereits die Hälfte von dem Geld für einen Haufen neuer Kleider ausgegeben.»
    «Schick das Geld zurück.»
    «Das will ich nicht.»
    «Wenn du nicht genug auf dem Konto hast, kann ich dir den Rest leihen.»
    «Danke, Nathan, aber ich bin auf deine Barmherzigkeit nicht angewiesen.»
    «Die haben dich an den Eiern, Harry, und du merkst es noch nicht mal.»
    «Denk, was du willst, aber ich steig da jetzt nicht mehr aus. Ich mache weiter, egal was kommt. Wenn du mit Gordon Recht hast, ist mein Leben sowieso zu Ende. Also, was soll’s? Und wenn du falsch liegst – und da bin ich mir ganz sicher   –, lade ich dich nochmal zum Essen ein, und du kannst auf meinen Erfolg anstoßen.»

ES KLOPFT AN DIE TÜR
    S amstags und sonntags konnte Tom ausschlafen. Harry hatte sein Geschäft zwar am Wochenende geöffnet, aber Tom brauchte nicht zu arbeiten, und da an diesen Tagen keine Schule war, wäre es sinnlos gewesen, früh aufzustehen. Die S. p. M. hätte nicht auf den Stufen vor ihrem Haus gesessen und auf den Bus gewartet, um ihre Kinder abzuholen, und ohne diese Verlockung, die ihn sonst aus dem warmen Bett gescheucht hätte, stellte er sich nicht einmal den Wecker. Die Jalousie zugezogen, den Körper im Schoßdunkel seines winzigen Heims eingerollt, schlief er so lange, bis seine Augen sich von allein öffneten oder, wie es oft geschah, bis irgendein Geräusch im Haus ihn aus dem Schlaf schreckte. Am Sonntag, dem 4.   Juni (drei Tage nach meinem verhängnisvollen Zusammenstoß mit Roberto Gonzalez, dem das beunruhigende Gespräch mit Harry Brightman gefolgt war), wurde mein Neffe von einem Geräusch aus den Tiefen des Schlafs gerissen – in diesem Fall vom leisen, zaghaften Klopfen einer kleinen Hand an seiner Tür. Es war kurz nach neun, und als es Tom gelungen war, das Geräusch einzuordnen, als er sich aus dem Bett gewälzt hatte und durchs Zimmer gestolpert war, um die Tür aufzumachen, nahm sein Leben eine neue und verblüffende Wendung. Kurz gesagt, alles wurde anders für ihn, und erst jetzt, nach dieser mühsamen Vorarbeit, nach dieser gründlichen Vorbereitung des Bodens, kommt meine Chronik von Toms Erlebnissen so richtig in Fahrt.
    Es war Lucy. Eine stille, neuneinhalb Jahre alte Lucy mitkurzen dunklen Haaren und den runden, haselnussbraunen Augen ihrer Mutter, ein frühreifes, groß gewachsenes Mädchen in ausgefransten roten Jeans, abgewetzten weißen Turnschuhen und einem Kansas-City-Royals- T-Shirt . Kein Koffer, keine Jacke, keinen Pullover überm Arm, nur die Kleider an ihrem Leib. Tom hatte sie

Weitere Kostenlose Bücher