Die Brooklyn-Revue
Schwester am Ende doch den heiligen Geist empfangen und sich der Weltsicht ihres Mannes angeschlossen? Andererseits, wenn es in der Familie tatsächlich harmonisch zuging – was machte die Tochter dann jetzt in Brooklyn? So bewegten wir zwei uns immerzu im Kreis und redeten und redeten, ohne Antwort auf eine einzige Frage zu finden.
«Kommt Zeit, kommt Rat», sagte ich schließlich, um der Quälerei ein Ende zu machen. «Aber immer der Reihe nach. Wir müssen etwas finden, wo wir sie unterbringen können. Bei dir kann sie nicht bleiben, bei mir auch nicht. Also, was machen wir?»
«Ich gebe sie nicht ins Heim, falls du das meinst», sagte Tom.
«Nein, natürlich nicht. Aber irgendeiner von unseren Bekannten wird sie doch bei sich aufnehmen können. Vorübergehend, meine ich. Bis es uns gelingt, Aurora aufzuspüren.»
«Das ist ziemlich viel verlangt, Nathan. Das könnte Monate dauern. Oder ewig.»
«Was ist mit deiner Stiefschwester?»
«Du meinst Pamela?»
«Du hast doch gesagt, der geht es gut. Großes Haus in Vermont, zwei Kinder, der Mann Anwalt. Wenn du ihr sagst, es ist nur für diesen einen Sommer, macht sie’s vielleicht.»
«Sie kann Rory nicht ausstehen. Wie alle Zorns. Wie käme sie dazu, sich für Rorys Tochter zu engagieren?»
«Aus Mitgefühl. Aus Großmut. Du hast gesagt, sie sei mit den Jahren besser geworden. Nun, wenn ich verspreche, für die Kosten aufzukommen, betrachtet sie die Sache vielleicht als gemeinsames Familienunternehmen. Wir alle ziehen für das Gemeinwohl an einem Strang.»
«Du willst einfach nicht lockerlassen, stimmt’s?»
«Ich versuche nur, uns aus der Patsche zu holen, Tom. Nichts weiter.»
«Na schön, ich rufe Pamela an. Sie wird ablehnen, aber versuchen kann ich’s ja trotzdem.»
«So ist’s recht, Junge. Trag ruhig dick auf. So fett und schmalzig, wie du nur kannst.»
Er wollte aber nicht von meiner Wohnung aus telefonieren. Nicht nur, weil Lucy da sei, sagte er, sondern auch, weil er sich in meiner Gegenwart zu befangen fühlen würde. Tom der Empfindliche, der Pingelige, das größte Sensibelchen der Welt. Kein Problem, erwiderte ich, aber er brauche deswegen nicht gleich in seine Wohnung zurückzugehen. Lucy und ich würden einen Spaziergang machen, dann habe er seine Ruhe bei dem Telefonat mit Pamela und außerdem noch den Vorteil, dass das Ferngespräch von meinem Konto abgebucht werde. «Du hast gesehen, was die Kleine anhat», sagte ich. «Die zerfetzten Jeans, die ausgelatschtenSchuhe. So geht das nicht, richtig? Du rufst in Vermont an, und ich ziehe mit ihr los, neue Sachen kaufen.»
Damit war die Sache geregelt. Nach einem eilig zubereiteten Mittagessen – Tomatensuppe, Rührei, Salamibrote – brachen Lucy und ich zu einer Einkaufstour auf. Sie mochte verstummt sein, schien den Ausflug aber nicht weniger zu genießen, als jedes andere Mädchen es unter ähnlichen Umständen auch getan hätte: Ich ließ ihr völlige Freiheit, sich auszusuchen, was sie wollte. Zunächst widmeten wir uns den wesentlichen Dingen (Strümpfe, Unterwäsche, lange Hosen, kurze Hosen, Pyjamas, ein Sweatshirt mit Kapuze, ein Anorak, Nagelschere, Zahnbürste, Haarbürste und so weiter), dann aber kamen neonblaue Turnschuhe zu hundertfünfzig Dollar, eine Brooklyn-Dodgers-Baseballmütze aus reiner Wolle und dann zu meiner Überraschung ein glänzendes Paar echte Lackleder-Mary-Janes und ein rotweißes Baumwollkleid, das wir ganz zum Schluss noch kauften – den alten Klassiker mit rundem Kragen und einer Schärpe, die im Rücken zusammengebunden wurde. Als wir unsere Beute zu meiner Wohnung schleppten, war es weit nach drei und Tom längst nicht mehr da. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
Lieber Nathan:
Pamela hat ja gesagt. Frag nicht, wie mir das
gelungen ist, aber ich musste sie eine Stunde lang
bearbeiten, bis sie endlich nachgab. Das war eins der
aufreibendsten, zermürbendsten Gespräche, die ich
je geführt habe. Fürs Erste soll es nur ein «Versuch»
sein, aber die gute Nachricht ist, dass wir Lucy schon
morgen bringen sollen. Hat mit Teds Terminen zu tun
und mit irgendeiner Veranstaltung in ihrem Country
Club. Ich gehe davon aus, dass wir dein Auto nehmen
können? Falls es dir zu viel ist, fahre ich. Ich gehe
jetzt in den Buchladen und rede mit Harry über ein
paar Tage Urlaub. Dort warte ich auf dich. A presto
Tom
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Ich war natürlich erleichtert, froh, dass unser Problem
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