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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, erkannte sie aber sofort. Irgendwie von Grund auf verändert, und doch genau wie früher – trotz einer vollständigen Reihe neuer Zähne, trotz des jetzt länglichen, schmaleren Gesichts, trotz der vielen Zentimeter, die sie gewachsen war. So stand sie vor der Tür, lächelte zu ihrem zerzausten, verschlafenen Onkel empor und musterte ihn mit jenem gespannten, ungerührten Ausdruck in den Augen, den er aus den alten Zeiten in Michigan so gut in Erinnerung hatte. Wo war ihre Mutter? Wo war der Mann ihrer Mutter? Warum war sie allein? Wie war sie hierher gekommen? Tom machte nach jeder Frage eine Pause, aber aus Lucys Mund kam kein einziges Wort. Er überlegte schon, ob sie etwa taub geworden wäre, aber als er sie fragte, ob sie sich an ihn erinnere, nickte sie immerhin. Tom breitete die Arme aus, und sie ließ sich bereitwillig von ihm umfangen, legte ihre Stirn an seine Brust und drückte sich, so fest sie konnte, an ihn. «Du hast bestimmt großen Hunger», sagte er schließlich, und dann zog er die Tür weit auf und ließ sie in den trostlosen Sarg eintreten, den er sein Zimmer nannte.
    Er machte ihr eine Schale Cheerios, schenkte ihr ein Glas Orangensaft ein, und bis seine Kanne Kaffee durchgelaufen war, waren Glas und Schale bereits geleert. Er fragte, ob sie noch mehr wolle, und als sie lächelnd nickte, machte er ihr zwei Scheiben Toast, die sie mit Ahornsirup übergoss und in anderthalb Minuten hinunterschlang. Anfangs hielt Tom ihr Schweigen für ein Zeichen von Erschöpfung, Unruheoder Hunger, von irgendetwas in dieser Richtung; Tatsache aber war, dass Lucy ganz und gar nicht müde aussah und sich in ihrer Umgebung vollkommen wohl zu fühlen schien, und nachdem sie das Essen verputzt hatte, konnte er auch den Hunger von der Liste streichen. Und doch beantwortete sie seine Fragen immer noch nur mit Schweigen. Ein gelegentliches Nicken oder Kopfschütteln, aber kein Wort, kein Ton, kein Versuch, die Zunge zu gebrauchen.
    «Hast du das Sprechen verlernt, Lucy?», fragte Tom.
    Kopfschütteln.
    «Was ist mit deinem T-Shirt ? Heißt das, du bist aus Kansas City gekommen?»
    Keine Reaktion.
    «Was möchtest du von mir? Ich kann dich nicht zu deiner Mutter zurückschicken, wenn du mir nicht sagst, wo sie wohnt.»
    Keine Reaktion.
    «Soll ich dir einen Bleistift und Papier geben? Wenn du nicht reden willst, könntest du mir deine Antworten vielleicht aufschreiben.»
    Kopfschütteln.
    «Willst du gar nicht mehr sprechen?»
    Kopfschütteln.
    «Gut. Das freut mich. Und wann darfst du wieder sprechen?»
    Lucy dachte kurz nach und hob dann zwei Finger.
    «Zwei. Aber zwei was? Zwei Stunden? Zwei Tage? Zwei Monate? Sag es mir, Lucy.»
    Keine Reaktion.
    «Geht es deiner Mutter gut?»
    Nicken.
    «Ist sie noch mit David Minor verheiratet?»
    Noch ein Nicken.
    «Warum bist du fortgelaufen? Behandeln sie dich nicht gut?»
    Keine Reaktion.
    «Wie bist du nach New York gekommen? Mit dem Bus?»
    Nicken.
    «Hast du die Fahrkarte noch?»
    Keine Reaktion.
    «Sieh mal in deinen Taschen nach. Vielleicht finden wir dort ja eine Antwort.»
    Lucy durchwühlte gehorsam alle vier Taschen ihrer Jeans und zog hervor, was darin war, aber das brachte Tom auch nicht weiter. Hundertsiebenundfünfzig Dollar in bar, drei Streifen Kaugummi, sechs Vierteldollars, zwei Zehner, vier Cents und ein Zettel mit Toms Namen und Telefonnummer – aber keine Busfahrkarte, kein Hinweis darauf, wo ihre Reise begonnen hatte.
    «Also schön, Lucy», sagte Tom. «Jetzt bist du hier. Und was hast du nun vor? Wo willst du leben?»
    Lucy zeigte mit dem Finger auf ihren Onkel.
    Tom lachte ungläubig auf. «Dann sieh dich mal gut um», sagte er. «Hier ist kaum Platz genug für einen. Wo willst du denn schlafen, Kleine?»
    Ein Achselzucken, dann ein breites, immer entzückenderes Lächeln – als wollte sie sagen:
Warten wir’s ab
.
    Aber da gab es nichts abzuwarten, jedenfalls nicht für Tom. Er kannte sich mit Kindern nicht aus, und selbst wenn er in einer Zwölfzimmervilla gewohnt und einen ganzen Stab Dienstboten gehabt hätte, hätte er immer noch nicht das geringste Interesse daran gehabt, zum Ersatzvater seiner Nichte zu werden. Ein normales Kind wäre schon schwierig genug gewesen, aber ein Kind, das sich weigerte, zu sprechen, und hartnäckig keinerlei Auskunft über sichgab, war schlichtweg ausgeschlossen. Und doch – was sollte er machen? Fürs Erste hatte er sie am Hals, und wenn er sie nicht dazu bringen konnte, ihm

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