Die Brooklyn-Revue
Sache war brillant ausgeheckt, wenn ich das so sagen darf, ein echtes Schelmenstück, und vor einer so auf die Spitze getriebenen Raffinesse kann man nur den Hut ziehen. Aber mehr darüber in Bälde.
Während Lucy sich im Halbschlaf ihren Grübeleien hingab, sprachen Tom und ich miteinander. Er hatte nicht mehr am Steuer eines Autos gesessen, seit er im Januar seinen Taxijob gekündigt hatte, und die bloße Tatsache, dass er wieder fuhr, schien seinen ganzen Organismus zu beleben. Ich war in den letzten zwei Wochen fast täglich mit ihm zusammen gewesen, und nicht ein einziges Mal hatte ich ihn so unbeschwert und glücklich erlebt wie an diesem Morgen Anfang Juni. Nachdem er uns durch den Stadtverkehr gesteuert hatte, gelangten wir auf den ersten von mehreren Highways, die uns nach Norden bringen sollten, und dort, endlich auf freier Strecke, fiel alles von ihm ab, die Spannung, die ganze Last seines Elends und sein Hass auf die Welt. Ein entspannter Tom war ein gesprächiger Tom. So war es auch früher schon immer bei ihm gewesen, und von etwa halb neun bis weit nach Mittag unterbrach nichts seinen Redefluss – eine wahre Flut von Geschichten, Witzen und Vorträgen zu aktuellen und obskuren Themen.
Es begann mit einer Bemerkung über das
Buch menschlicher
Torheiten
, mein kleines, dilettantisches
work in progress
. Er erkundigte sich, wie es damit stehe, und als ich ihm erzählte, dass noch kein Ende abzusehen sei, dass jede Geschichte, die ich schrieb, eine weitere hervorzubringen schien, und dann noch eine und noch eine, klopfte er mir mit der rechten Hand auf die Schulter und verkündete das verblüffende Urteil: «Du bist ein Schriftsteller, Nathan. Du entwickelst dich zu einem echten Schriftsteller.»
«Nein, nein», sagte ich. «Ich bin bloß ein ehemaliger Lebensversicherungsvertreter, der nichts Besseres mit sich anzufangen weiß. Das Schreiben vertreibt mir die Zeit, sonst nichts.»
«Du irrst dich, Nathan. Nachdem du jahrelang in der Wüste umhergeirrt bist, hast du endlich zu deiner wahren Berufung gefunden. Jetzt, wo du nicht mehr für Geld zu arbeiten brauchst, machst du die Arbeit, für die du von Anfang an bestimmt warst.»
«Lächerlich. Kein Mensch wird mit sechzig zum Schriftsteller.»
Der ehemalige Student und Literaturwissenschaftler räusperte sich und sagte, da sei er aber anderer Meinung. Beim Schreiben gebe es keine Regeln, sagte er. Wenn man sich mit dem Leben von Dichtern und Romanautoren beschäftige, stoße man immer wieder auf das reine Chaos, das sei ein unendlicher Dschungel von Ausnahmen. Das liege daran, dass das Schreiben eine Krankheit sei, fuhr er fort, man könne geradezu von einer Infektion oder Grippe des Geistes sprechen, und daher könne jedermann jederzeit davon betroffen werden. Die Jungen und die Alten, die Starken und die Schwachen, die Trinker und die Enthaltsamen, die geistig Gesunden und die Wahnsinnigen. Studiere man die Liste der Giganten und Halbgiganten, stoße man auf Schriftsteller jeder denkbaren sexuellen Neigung, jederpolitischen Orientierung; hier seien alle menschlichen Eigenschaften zu finden – vom pathetischsten Idealismus bis zur übelsten Verworfenheit. Unter Schriftstellern finde man Kriminelle und Anwälte, Spione und Ärzte, Soldaten und alte Jungfern, Reisende und Bettlägerige. Wenn man niemanden ausschließen könne, was solle dann einen fast sechzigjährigen ehemaligen Lebensversicherungsvertreter daran hindern, in ihre Reihen einzutreten? Welches Gesetz wolle Nathan Glass verbieten, sich von dieser Krankheit anstecken zu lassen?
Ich zuckte die Schultern.
«Joyce hat drei Romane geschrieben», sagte Tom. «Balzac neunzig. Macht das für uns jetzt einen Unterschied?»
«Für mich nicht», sagte ich.
«Kafka hat seine erste Erzählung in einer einzigen Nacht geschrieben. Stendhal schrieb
Die Kartause von Parma
in neunundvierzig Tagen. Melville schrieb
Moby Dick
in sechzehn Monaten. Flaubert brauchte für
Madame Bovary
fünf Jahre. Musil arbeitete achtzehn Jahre lang an seinem
Mann ohne Eigenschaften
und starb, bevor er den Roman beenden konnte. Interessiert uns das alles heute noch?»
Die Frage schien keine Antwort zu erfordern.
«Milton war blind. Cervantes hatte nur einen Arm. Christopher Marlowe wurde bei einer Kneipenschlägerei erstochen, als er noch keine dreißig war. Soweit man weiß, wurde ihm das Messer direkt ins Auge gestoßen. Was soll uns wohl dazu einfallen?»
«Ich weiß es nicht, Tom. Sag du es mir.»
«Nichts. Ein
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