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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dazu anregen könnte, ein wenig über ihr störrisches Schweigen nachzudenken. In der besten aller möglichen Welten würde sie dann damit aufhören, dachte ich.
    Bis zu dem Essen bei Rocco’s war an ihrem Benehmen nichts auszusetzen gewesen. Sie war allem, worum ich sie bat, bereitwillig und gehorsam gefolgt, und kein einziges Mal hatte sich ihre Miene verfinstert. Nun aber, kaum dass wir uns an den Tisch gesetzt hatten, platzte Tom in einem ungewöhnlichen Anfall von Gedankenlosigkeit mit derNeuigkeit unserer bevorstehenden Reise nach Vermont heraus. Keine dramatische Steigerung, kein Lobgesang auf die Herrlichkeiten Burlingtons, keine Erörterung der Gründe, warum sie es bei Pamela besser haben würde als bei ihren zwei Onkels in Brooklyn. Da sah ich sie zum ersten Mal ein finsteres Gesicht machen, dann zum ersten Mal weinen, und es dauerte lange, bis ihre schlechte Laune allmählich verflog. So hungrig sie sein mochte, sie rührte ihre Pizza nicht an, und nur mein unablässiges Gerede ersparte uns am Ende, was sich zu einem echten Nervenkrieg hätte ausweiten können. Als Erstes legte ich die Fundamente, die Tom vernachlässigt hatte: Ich rühmte und pries, feierte und glorifizierte Pamelas legendäre Liebenswürdigkeit mit der Inbrunst eines Handelsvertreters. Als dieser Redestrom nicht zum gewünschten Ergebnis führte, wechselte ich die Taktik und versprach ihr, dass Tom und ich so lange bleiben würden, bis sie sich eingelebt hätte, und dann ging ich sogar noch weiter, setzte auf volles Risiko und versicherte, die Entscheidung liege ganz allein bei ihr. Falls es ihr dort nicht gefallen sollte, würden wir ihre Sachen einpacken und mit ihr nach New York zurückfahren. Aber sie müsse es wenigstens ausprobieren, sagte ich, mindestens drei oder vier Tage lang. Einverstanden? Sie nickte. Und dann, zum ersten Mal seit einer halben Stunde, lächelte sie wieder. Ich rief den Kellner und fragte, ob es zu viel Mühe machen würde, die Pizza noch einmal aufzuwärmen. Zehn Minuten später brachte er sie wieder an den Tisch, und Lucy haute rein.
    Das Chaplin-Experiment führte zu keinem eindeutigen Ergebnis. Lucy lachte – immerhin die ersten Töne, die wir überhaupt von ihr zu hören bekamen (selbst ihre Tränen beim Abendessen hatte sie schweigend vergossen)   –, doch einige Minuten vor der Szene im Restaurant, vor der Stelleim Film, wo Charlie seinen denkwürdigen Nonsensgesang anstimmt, fielen ihr die Augen zu, und dann war sie auch schon eingeschlafen. Wer konnte ihr einen Vorwurf machen? Sie war erst am Morgen, nach einer Reise von Gott weiß wie vielen hundert Meilen, in New York eingetroffen, hatte also wahrscheinlich die ganze Nacht im Bus gesessen. Ich trug sie ins Gästezimmer, während Tom das bereits vorbereitete Schlafsofa aufklappte und die Decken zurückschlug. Niemand schläft tiefer als junge, insbesondere erschöpfte junge Menschen. Nicht einmal, als ich sie auf die Polster legte und zudeckte, machte sie die Augen auf.
    Der nächste Tag begann mit einem merkwürdigen, verstörenden Ereignis. Um sieben Uhr trat ich mit einem Glas Orangensaft, einem Teller Rührei und zwei gebutterten Scheiben Toast in das Zimmer, in dem Lucy schlief. Ich stellte die Sachen auf den Boden und rüttelte sie leise am Arm. «Aufwachen, Lucy», sagte ich. «Frühstück ist fertig.» Nach drei oder vier Sekunden schlug sie die Augen auf, sah sich erst einmal vollkommen verwirrt um
(Wo bin ich? Wer ist dieser fremde Mann da über mir?),
dann aber kam die Erinnerung, und sie lächelte mich an. «Wie hast du geschlafen?», fragte ich.
    «Sehr gut, Onkel Nat», antwortete sie mit einem leichten Südstaatenakzent, wie mir schien. «Wie ein dicker Stein am Grund eines Brunnens.»
    Peng. Na bitte. Lucy hatte gesprochen. Unaufgefordert, unverlangt, ohne darüber nachzudenken, hatte sie einfach den Mund aufgemacht und gesprochen. War die Herrschaft des Schweigens offiziell beendet, fragte ich mich, oder hatte sie in der Benommenheit des Aufwachens nur nicht mehr daran gedacht?
    «Das freut mich», sagte ich, ohne weiter darauf einzugehen, weil ich nichts beschreien wollte.
    «Müssen wir immer noch diese blöde Fahrt nach Vermont machen?», fragte sie.
    Jedes neue Wort, jeder neue Satz steigerte meinen verhaltenen Optimismus.
    «In einer Stunde geht’s los», sagte ich. «Sieh mal, Lucy, Saft, Toast und Eier.»
    Als ich mich bückte und die Sachen aufhob, zeigte sie wieder einmal ihr strahlendes Lächeln. «Frühstück im

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