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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Krebs erkrankt, würde ich jetzt wahrscheinlich nicht neben dir im Auto sitzen.»
    «Richtig», sagte Tom. «Vierzig ist zu jung. Aber vergiss nicht, wie viele Schriftsteller es nicht einmal bis dahin geschafft haben.»
    «Christopher Marlowe.»
    «Mit neunundzwanzig gestorben. Keats mit fünfundzwanzig. Büchner mit dreiundzwanzig. Stell dir das mal vor. Der größte deutsche Dramatiker des 19.   Jahrhunderts, gestorben mit dreiundzwanzig. Lord Byron mit sechsunddreißig. Emily Brontë mit dreißig. Charlotte Brontë mit neununddreißig. Shelley einen Monat vor seinem dreißigsten Geburtstag. Sir Philip Sidney mit einunddreißig. Nathanael West mit siebenunddreißig. Wilfred Owen mit fünfundzwanzig. Georg Trakl mit siebenundzwanzig. Leopardi, Garcia Lorca und Apollinaire alle mit achtunddreißig. Pascal mit neununddreißig. Flannery O’Connor mit neununddreißig. Rimbaud mit siebenunddreißig. Die beiden Cranes, Stephen und Hart, mit achtundzwanzig beziehungsweise zweiunddreißig. Und Heinrich von Kleist, KafkasLieblingsautor, gestorben mit vierunddreißig, als er mit seiner Geliebten Doppelselbstmord beging.»
    «Und Kafka ist dein Lieblingsautor.»
    «Ich glaube schon. Jedenfalls aus dem 20.   Jahrhundert.»
    «Warum hast du deine Dissertation nicht über ihn geschrieben?»
    «Weil ich dumm war. Und weil ich Amerikanist werden wollte.»
    «Hat er nicht
Amerika
geschrieben?»
    «Ha ha. Guter Einwand. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?»
    «Ich erinnere mich an seine Beschreibung der Freiheitsstatue. Statt einer Fackel reckt das alte Mädchen ein Schwert in die Luft. Ein unglaubliches Bild. Es bringt einen zum Lachen und macht einem gleichzeitig eine Heidenangst. Könnte aus einem Albtraum sein.»
    «Du hast Kafka also gelesen.»
    «Einiges. Die Romane und vielleicht ein Dutzend Erzählungen. Aber das ist schon lange her, damals, als ich in deinem Alter war. Nur vergisst man Kafka nicht. Sobald man sich einmal mit ihm beschäftigt hat, lässt er einen nicht mehr los.»
    «Hast du mal in die Tagebücher und Briefe reingesehen? Hast du mal eine Biographie gelesen?»
    «Du kennst mich doch, Tom. Ich bin kein sehr ernsthafter Mensch.»
    «Ein Jammer. Je mehr du über sein Leben erfährst, desto interessanter werden seine Bücher. Kafka war nicht bloß ein großer Schriftsteller, er war vielmehr auch als Mensch bemerkenswert. Kennst du die Geschichte mit der Puppe?»
    «Nicht dass ich wüsste.»
    «Ah. Dann hör mir genau zu. Ich erzähle sie dir als ersten Beweis für meine Behauptung.»
    «Ich weiß nicht, ob ich dir folgen kann.»
    «Ist doch ganz einfach. Ich will dir beweisen, dass Kafka in der Tat ein ganz außerordentlicher Mensch war. Warum ich dazu als Erstes diese Anekdote nehme? Ich weiß nicht. Aber seit Lucy gestern Morgen aufgetaucht ist, ist mir die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Offenbar gibt es da einen Zusammenhang. Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, glaube aber, dass darin eine Botschaft an uns steckt, vielleicht ein Hinweis, wie wir uns zu verhalten haben.»
    «Lass die lange Einleitung, Tom. Komm einfach zur Sache und fang an.»
    «Ich schwafle mal wieder, stimmt’s? Die Sonne, die vielen Autos, freie Fahrt mit sechzig, siebzig Meilen die Stunde. Bei so was explodiert mein Gehirn, Nathan. Ich fühle mich wie neugeboren, zu allem bereit.»
    «Gut. Dann erzähl mir jetzt die Geschichte.»
    «Also schön. Die Geschichte. Die Geschichte mit der Puppe   … Es ist Kafkas letztes Lebensjahr, er hat sich in Dora Diamant verliebt, eine junge Frau von neunzehn oder zwanzig Jahren, die von ihrer chassidischen Familie in Polen fortgelaufen ist und jetzt in Berlin lebt. Sie ist halb so alt wie er, und doch ist sie es, die ihm den Mut gibt, Prag zu verlassen – was er seit Jahren hat tun wollen   –, und sie wird die erste und einzige Frau, mit der er jemals zusammengelebt hat. Im Herbst 1923 kommt er nach Berlin, im Frühjahr darauf stirbt er; aber diese letzten Monate sind wahrscheinlich die glücklichsten seines Lebens. Trotz seines immer schlechteren Gesundheitszustandes. Trotz der gesellschaftlichen Verhältnisse in Berlin: Nahrungsmittelknappheit, politische Krawalle, die schlimmste Inflation der deutschen Geschichte. Trotz der Gewissheit, dass er nicht mehr lange auf dieser Welt leben wird.
    Jeden Nachmittag geht Kafka im Park spazieren. Dora kommt meistens mit. Eines Tages begegnen sie einem kleinen Mädchen, es weint und ist vollkommen außer sich vor Schmerz. Kafka

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