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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Bett», erklärte sie. «Wie die Königin Nofretete.»
    Inzwischen glaubte ich, wir hätten das Schlimmste hinter uns. Aber was wusste ich schon – was wusste ich denn schon? Ich hielt das Glas in der rechten Hand, und gerade als sie danach greifen wollte, fiel ihr siedend heiß ein, was sie soeben getan hatte. Selten habe ich den Ausdruck eines Gesichts so jählings wechseln sehen wie den ihren in diesem Augenblick. Das strahlende Lächeln wurde mit einem Schlag zur Schmerzensmaske reinsten Entsetzens. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, und dann traten ihr auch schon die Tränen in die Augen.
    «Keine Sorge, Schatz», sagte ich. «Du hast nichts Schlimmes getan.»
    Hatte sie aber doch. Für ihre Begriffe hatte sie etwas Schlimmes getan, und glaubte man dem qualvollen Ausdruck ihres kleinen Gesichts, hatte sie eine unverzeihliche Sünde begangen. Voller Wut auf sich selbst schlug sie sich mit dem Ballen ihrer linken Hand an den Kopf, eine wilde Pantomime, mit der sie wohl ausdrücken wollte, für wie dumm sie sich hielt. Sie schlug sich dreimal, viermal, fünfmal, aber gerade als ich sie am Arm fassen und festhalten wollte, riss sie die linke Hand hoch, reckte einen Finger in die Höhe und stieß damit nach meinem Gesicht. Sie raste vor Zorn. Ekel und Selbsthass im Blick, schlug sie mit der Rechten ihre Linke, als wolle sie die Hand für die Frechheitstrafen, diesen einen Finger hochgereckt zu haben. Dann ließ sie davon ab, und die linke Hand schoss wieder nach oben. Diesmal hielt sie zwei Finger hoch. Wie zuvor stieß sie sie mit erbittertem Nachdruck in die Luft. Erst einen, jetzt zwei. Was wollte sie mir damit sagen? Ich konnte mir nicht sicher sein, vermutete aber, es ging um Zeit, um die Zahl von Tagen, die noch vergehen mussten, bis sie wieder sprechen durfte. Beim Aufwachen wäre es nur noch ein Tag gewesen, aber da sie sich jetzt versehentlich ein paar Worte hatte entschlüpfen lassen, musste sie zur Strafe noch einen Tag länger schweigen. Aus eins war daher zwei geworden.
    «Stimmt das?», fragte ich. «Willst du mir sagen, dass du in zwei Tagen zu reden anfängst?»
    Keine Reaktion. Ich wiederholte die Frage, aber Lucy hatte nicht vor, ihr Geheimnis preiszugeben. Kein Nicken, kein Kopfschütteln. Ich setzte mich neben sie und strich ihr über die Haare.
    «Hier, Lucy», sagte ich und reichte ihr den Orangensaft. «Wird Zeit, dass du frühstückst.»

NACH NORDEN
    D as Auto war ein Relikt aus meinem früheren Leben. In New York konnte ich damit nichts anfangen, war aber zu faul gewesen, mir die Mühe zu machen, es zu verkaufen, und so stand es seit meinem Umzug nach Brooklyn in einem Parkhaus an der Union Street zwischen der Sixth und Seventh Avenue, ohne dass ich es je gefahren oder auch nur angesehen hätte. Ein limonengrüner Oldsmobile Cutlass Baujahr ’94, eine Karre von erschreckender Hässlichkeit. Aber der Wagen tat, was von ihm erwartet wurde, und nach zwei langen Monaten des Nichtstuns sprang der Motor gleich beim ersten Drehen des Zündschlüssels an.
    Tom saß am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz, Lucy hinten. Trotz allem, was ich ihr am Abend zuvor versprochen hatte, wollte sie immer noch nichts von Pamela und Vermont wissen und nahm es uns sehr übel, dass wir sie gegen ihren Willen dort hinbrachten. Logisch betrachtet hatte sie Recht. Da die endgültige Entscheidung bei ihr lag – welchen Sinn hatte es, sie mehr als dreihundert Meilen dort hinzufahren, wenn schon vorher feststand, dass wir sie anschließend dieselbe Strecke wieder zurückfahren würden? Ich hatte ihr gesagt, sie müsse dem Experiment mit Pamela wenigstens eine Chance geben. Darauf war sie zwar vorgeblich eingegangen, aber ich wusste, sie hatte sich bereits entschieden, und nichts würde daran etwas ändern. Jetzt saß sie mürrisch und in sich gekehrt auf der Rückbank, ein schmollendes, unschuldiges Opfer unserer grausamenMachenschaften. Als wir auf der I-95 durch die Außenbezirke von Bridgeport fuhren, schlief sie ein, bis dahin aber starrte sie fast nur aus dem Fenster, zweifellos in finstere Gedanken über ihre beiden fiesen Onkels versunken. Wie sich später herausstellte, hatte ich sie falsch eingeschätzt. Lucy war viel einfallsreicher, als ich gedacht hatte, und statt nur dazusitzen und sich ihrer Wut hinzugeben, bastelte sie bereits an einer Intrige, gebrauchte ihre beträchtliche Intelligenz, um einen Plan auszuhecken, der den Spieß umdrehen und ihr die Kontrolle über ihr Schicksal zurückgeben sollte. Die

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