Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)
sich eine bessere Bleibe suchen. Vielleicht würden sie sogar eine Weile verreisen, irgendwohin, wo es schön und ruhig sei. Sie hatte ihm erklärt, dass sie gern mit ihm weggehen würde, aber auch hier glücklich und zufrieden sei. Sie wäre überall glücklich und zufrieden, solange er bei ihr und seinerseits zufrieden sei. Tobias hatte gesagt, das sei einer der Gründe, weshalb er sie so möge, weil sie keine teuren Sachen verlange, weil sie einfach und bescheiden sei. Doch das hatte sie überhaupt nicht gemeint, und sie war ungehalten, weil er sie missverstanden hatte. Er hatte sie gönnerhaft behandelt, und das konnte sie nicht ausstehen, ebenso wenig wie die dämlichen Sachen, die er jetzt im Keller aufbewahrte und ebenso vor ihr geheim hielt wie die Fuhren, die er mit seinem Truck unternahm, und die Waren, die er auslieferte.
Und dann waren da die Ohrringe. Sie wälzte sich auf dem Bett herum und öffnete das Kästchen. Sie waren wunderschön. Und die reinsten Antiquitäten. Nein, sie waren älter. Als Antiquitäten bezeichnete man Möbel oder Schmuck aus dem neunzehnten Jahrhundert, jedenfalls hatte sie das immer gedacht. Doch diese Ohrringe waren uralt . Sie hatte ihr Alter regelrecht gespürt, als sie sie zum ersten Mal berührt hatte.
Sie stand auf und ließ sich ein Bad ein. Der Tag war schon fast vorbei, und sie beschloss, sich nicht die Mühe zu machen und sich noch anzuziehen. Sie würde den Abend im Bademantel verbringen, ein bisschen fernsehen und sich eine Pizza bestellen. Da Joel nicht da war, drehte sie sich von dem kleinen Grasvorrat, den sie in einer Schublade versteckte, einen Joint und rauchte ihn in der Wanne. Joel mochte keine Drogen, und obwohl er nie versucht hatte, ihr das Gras zu verbieten, hatte er ihr klargemacht, dass er es nicht wissen wollte, wenn sie einen Joint rauchte. Deshalb rauchte sie nur, wenn er nicht da oder sie mit Freunden zusammen war.
Nach dem Bad und dem Joint ging es ihr so gut wie schon lange nicht mehr. Sie betrachtete wieder die Ohrringe und beschloss, sie anzulegen. Sie raffte ihre Haare hoch, schlang sich ein sauberes weißes Bettlaken um den Körper und stellte sich dann vor den Spiegel, um ein Gefühl dafür zu kriegen, wie sie in einem anderen Zeitalter ausgesehen hätte. Sie kam sich dabei ein bisschen albern vor, musste aber zugeben, dass sie elegant wirkte mit den im Lampenschein funkelnden Ohrringen, die leuchtende Lichtpünktchen auf ihr Gesicht warfen.
Nie und nimmer konnte sich Joel ein Geschenk wie diese Ohrringe leisten, das war ihr klar, es sei denn, er log noch mehr, als sie bereits vermutete, was sein Einkommen als Lastwagenfahrer anging. Daraus ließ sich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Er war in irgendetwas Illegales verwickelt, und diese Ohrringe waren ein Teil davon – ein Tauschgeschäft vielleicht oder eine vom Gewinn finanzierte Anschaffung. Es tat ihrer Schönheit etwas Abbruch. Karen hatte noch nie in ihrem Leben etwas gestohlen, nicht einmal Süßigkeiten oder billige Kosmetika, die übliche Beute ihrer Schulfreundinnen, wenn sie in Geschäften etwas mitgehen ließen. Nach Feierabend nahm sie im Diner nie mehr Essen mit, als ihr aufgrund ihres Arbeitsvertrages zustand. Die Regelung war ohnehin schon großzügig, und sie sah nicht ein, weshalb sie übermäßig gierig sein sollte, auch wenn es ein, zwei andere Bedienungen gab, die das Angebot als Vorwand nutzten, Essen mit nach Hause zu nehmen und sich, ihre Freunde und vermutlich jeden zu verpflegen, der bei ihnen vorbeischaute.
Aber die Ohrringe waren so herrlich. Noch nie hatte ihr jemand etwas so Zauberhaftes, Altes und Wertvolles geschenkt. Jetzt, da sie sie angelegt hatte, wollte sie sie nicht mehr abnehmen. Wenn er sie davon überzeugen konnte, dass er auf ehrliche Art und Weise an sie gekommen war, würde sie sie behalten, auch wenn ihr klar wäre, dass er log. Wenn er sich allerdings zu einer Lüge entschließen würde, stünde ihre Beziehung tatsächlich auf der Kippe. Sie hatte sich bereits vorgenommen, ihm die Schläge zu verzeihen, weil sie ihn liebte, aber es wurde höchste Zeit, dass er ehrlich zu ihr und vielleicht auch zu sich selbst war.
Sie setzte sich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Ach was soll’s, dachte sie, und drehte sich einen weiteren Joint. Sie schaute sich einen Film an, eine dämliche Komödie, die sie schon einmal gesehen hatte, die ihr aber jetzt, da sie ein bisschen high war, viel komischer vorkam. Der Komödie folgte ein weiterer
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