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Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)

Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)

Titel: Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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mehr hatte der Käpt’n die Statur des kleinen Mädchens in dem blauen Kleid angenommen, dessen lange, zu Zöpfen geflochtene Haare zwischen den Brüsten hingen. Wie schon zuvor konnte das Mädchen nicht älter als neun, zehn Jahre sein, doch seine Brüste waren erstaunlich gut entwickelt, geradezu obszön, dachte Herod. Ihr Gesicht war erschreckend bleich, irgendwie unfertig. Augen und Mund waren schwarze Ovale, an den Rändern verschwommen, so als wären die von einem dicken Bleistift hinterlassenen Striche mit einem schmutzigen Radiergummi verschmiert worden. Sie stand reglos da, ihr Kopf fast auf einer Höhe mit dem des sitzenden Mannes.
    Der Käpt’n wartete darauf, dass Joel Tobias starb.
    Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, wenn man behaupten würde, dass Herod ein unmoralischer Mann war. Und er war auch nicht amoralisch, denn er erkannte den Unterschied zwischen moralischem und unmoralischem Verhalten an und wusste bei all seinen Geschäften um die Notwendigkeit von Fairness und Ehrlichkeit. Er verlangte sie von anderen wie auch von sich selbst. Doch es gab eine gewisse Leere in Herod, wie die Höhlung in bestimmten Früchten, die sie schneller faulen lässt, wenn der Kern entfernt wurde, und aus dieser Leere rührte die Fähigkeit zu bestimmten Verhaltensweisen. Es hatte ihm kein Vergnügen bereitet, dem Mann weh zu tun, der jetzt auf dem Stuhl starb, und sobald Herod erfahren hatte, was er wissen wollte, hatte er aufgehört, sich an dessen Innereien zu schaffen zu machen, auch wenn die Verletzungen, die er ihm zugefügt hatte, so groß waren, dass er weiterlitt, obwohl ihm keine Gewalt mehr angetan wurde. Jetzt, als das letzte Blut weggespült wurde, fühlte sich Herod gezwungen, dem Leiden ein Ende zu bereiten.
    »Mr Tobias«, sagte er. »Ich glaube, wir sind am Ende.«
    Er griff zu der Schusswaffe neben der Spüle und wollte sich vom Spiegel abwenden.
    In diesem Moment bewegte sich das Mädchen. Sie huschte herum, so dass sie links von ihm stand, streckte eine schmutzige Hand aus und streichelte Tobias’ Gesicht. Tobias öffnete die Augen. Er wirkte verwirrt. Er spürte Finger auf seiner Haut, konnte aber nichts sehen. Das Mädchen beugte sich näher heran. Eine Zunge tauchte in der dunklen Spalte ihres Mundes auf, lang und dick, und leckte am Blut rund um den Mund des Sterbenden. Jetzt versuchte er den Kopf wegzudrehen, doch das Mädchen reagierte auf die Bewegung, klammerte sich an seine Kleidung, schob ihre Beine zwischen seine und drückte ihren Körper an ihn. Tobias konnte jetzt sein Spiegelbild im Rauchglas einer Ofentür sehen – sein Spiegelbild und die wahre Natur des Wesens, das sich an ihn drängte. Er wimmerte vor Angst.
    Herod ging zum Stuhl, hielt die Waffe an Tobias’ Kopf und drückte ab. Der Käpt’n verschwand, und nichts bewegte sich mehr.
    Herod trat einen Schritt zurück. Er war sich bewusst, dass der Käpt’n irgendwo in der Nähe war. Er spürte seine Wut. Er wagte einen kurzen Blick zur Ofentür, sah aber nichts.
    »Das war nicht nötig«, sagte er zu der lauschenden Dunkelheit. »Er hat genug gelitten.«
    Genug? Für wen? Für ihn, ja, aber für den Käpt’n konnte es nie genug Leid geben. Herod ließ die Schultern hängen. Da ihm nichts anderes übrigblieb, musste er wieder zum Fenster blicken.
    Der Käpt’n war unmittelbar hinter ihm, aber er war kein kleines Mädchen mehr. Stattdessen war er eine geschlechtslose Gestalt in einem langen, grauen Mantel. Sein Gesicht war verschwommen, eine sich ständig verändernde Abfolge von Gesichtern, und in ihnen sah Herod alle, die ihm jemals teuer waren: seine Mutter und seine Schwester, mittlerweile tot, seine Großmutter, verehrt und längst begraben, seine Freunde und Geliebten. Jeder von ihnen litt Qualen, ihre Gesichter waren vor Pein und Verzweiflung verzerrt. Und schließlich tauchte auch Herods Gesicht auf, und er begriff.
    So könnte es sein. Komme dem Käpt’n noch einmal in die Quere, dann würde genau das geschehen.
    Der Käpt’n verschwand und ließ Herod mit der Leiche allein. Er schob die Waffe wieder in das Holster unter seiner Schulter und warf einen letzten Blick auf den Toten. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis seine Freunde ihn fanden und wie viele noch von ihnen übrig waren. Es spielte keine große Rolle. Herod wusste jetzt, wer das Kästchen hatte, er musste sich beeilen. Der Käpt’n hatte ihn gewarnt – der Kollektor nahte.
    Herod hatte Geschichten über den Kollektor gehört,

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