Die Bruderschaft der Runen
schottischen Lairds ein Leben in trister Pflichterfüllung zu verbringen?
In ihre Überlegungen hinein drang ein Geräusch. Jemand klopfte an die Tür der Kammer, zaghaft zunächst, dann etwas lauter.
»Kitty?«, fragte Mary halblaut, während sie sich aufsetzte und die geröteten Augen rieb. »Bist du das?«
Sie erhielt keine Antwort.
»Kitty?«, fragte Mary noch einmal und trat an die Tür. »Wer ist da?«, wollte sie wissen.
»Eine Dienerin«, kam die Antwort leise, und Mary zog den Riegel zurück und öffnete die Tür, die sie in ihrer Not verschlossen hatte.
Draußen stand eine alte Frau.
Sie war nicht sehr groß und von untersetzter Gestalt, aber von ihren blassen, zerfurchten Zügen ging etwas Ehrfurcht Gebietendes aus. Das lange Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, war schlohweiß und bildete einen harten Kontrast zu dem pechschwarzen Kleid, das sie trug. Unwillkürlich musste Mary an die dunkle Gestalt denken, die sie bei ihrer Ankunft auf dem Söller von Burg Ruthven gesehen haben wollte …
»Ja?«, fragte Mary zögernd. Sie gab sich Mühe zu verbergen, dass sie geweint hatte, aber ihre bebende Stimme und die geröteten Augen verrieten sie.
Die Alte blickte sich nervös auf dem Korridor um, als fürchtete sie, jemand könne ihr gefolgt sein oder sie belauschen. »Mein Kind«, sagte sie dann leise, »ich bin gekommen, um Sie zu warnen.«
»Um mich zu warnen? Wovor?«
»Vor allem«, erwiderte die Frau, deren Hochlandakzent rau und ausgeprägt war und deren Stimme wie altes Leder knarrte. »Vor diesem Haus und den Menschen, die darin leben. Vor allem aber vor Ihnen selbst.«
»Vor mir selbst?« Die Alte sprach in Rätseln, und fast glaubte Mary schon, die Frau hätte den Verstand verloren. In ihren Augen war jedoch etwas, das diesen Eindruck Lügen strafte; wie Edelsteine funkelten sie, und es lag etwas Waches, Warnendes darin, das Mary nicht übersehen konnte.
»Vergangenheit und Zukunft vereinen sich«, sprach die alte Frau weiter. »Die Gegenwart, mein Kind, ist der Ort, an dem sie einander begegnen. Schreckliche Dinge sind an diesem Ort geschehen vor langer Zeit, und sie werden wieder geschehen. Die Geschichte wiederholt sich.«
»Die Geschichte? Aber …«
»Sie sollten diesen Ort verlassen. Es ist nicht gut für Sie, hier zu sein. Es ist ein dunkler, fluchbeladener Ort, der Ihr Herz verfinstern wird. Die Geister der Vergangenheit treiben hier ihr Unwesen. Man lässt sie nicht ruhen, deshalb werden sie zurückkehren. Ein Sturm steht bevor, wie das Hochland ihn nie zuvor erlebt hat. Wenn niemand ihn aufhält, wird er weiterziehen nach Süden und das ganze Land erfassen.«
»Wovon sprichst du?«, fragte Mary. Der Tonfall der Alten und die Art, wie sie sie anblickte, jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Sie hatte davon gehört, dass die Bewohner des Hochlands ihre Traditionen ehrten und dass die Vergangenheit in diesem rauen Landstrich in mancher Hinsicht noch lebendig war. Das keltische Vermächtnis ihrer Vorfahren bildete die Grundlage eines Aberglaubens, den diese Leute pflegten und der von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Das mochte manches erklären …
»Gehen Sie«, flüsterte die Alte beschwörend. »Sie müssen gehen, mein Kind. Verlassen Sie diesen Ort so schnell wie möglich, ehe Sie das gleiche Schicksal ereilt wie …«
Sie stutzte und sprach nicht weiter.
»Das gleiche Schicksal wie wen?«, hakte Mary nach. »Von wem sprichst du?«
Wieder blickte sich die Alte nervös um. »Von niemandem«, sagte sie dann. »Ich muss jetzt gehen. Denken Sie an meine Worte.« Damit wandte sie sich ab, eilte den Gang hinab und verschwand um die nächste Biegung.
»Halt! Warte!«, rief Mary und eilte ihr hinterher. Als sie die Biegung jedoch erreichte, war die alte Frau bereits verschwunden.
Nachdenklich kehrte Mary in ihre Kammer zurück. Viele seltsame Dinge waren seit ihrer Abreise aus Egton geschehen. Die Begegnung mit dem alten Mann in Jedburgh, der Überfall auf die Kutsche, das Unglück an der Brücke, das Treffen mit Sir Walter, die unheimliche Unterredung mit Malcolm Ruthven … Wenn Mary all das zusammennahm, mochte es ihr tatsächlich so erscheinen, als hätten unheimliche Mächte ihre Hände im Spiel und lenkten ihr Leben in seltsame Bahnen. Aber natürlich war das Unsinn. So sehr Mary die Ehrfurcht respektierte, die die Hochländer vor ihrem Land und seiner Geschichte hatten, wusste sie natürlich, dass all das nur Aberglaube war, der Versuch,
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