Die Bruderschaft der Runen
Lächelns. Für einen Moment schien es, als hätte ein Sonnenstrahl die dichte Wolkendecke durchbrochen und ein wenig Licht in das triste Leben der Menschen gebracht.
Dann war die Kutsche vorbei – und Malcolm, der zur anderen Seite hinausgeblickt hatte, sah, was Mary tat. »Was fällt Ihnen ein!«, fuhr er sie an. »Was tun Sie da?«
Mary zuckte zusammen. »Nun, ich … ich habe diesen Kindern zugewinkt, die dort am Straßenrand …«
»Das steht Ihnen nicht zu!«, herrschte Malcolm sie an. »Wie können Sie es wagen, mich derart zu beleidigen?«
»Sie zu beleidigen? Was meinen Sie damit?«
»Haben Sie es denn noch immer nicht begriffen, Mary? Sie sind die zukünftige Frau des Lairds of Ruthven, und als solche haben die Leute Sie zu respektieren und zu fürchten.«
»Lieber Malcolm«, erwiderte Mary mit selbstbewusstem Lächeln, »die Leute werden mich auch noch respektieren, wenn ich ihnen dann und wann ein Lächeln schenke oder den Kindern von der Kutsche aus zuwinke. Und wenn Sie mit ›fürchten‹ meinen, dass die Leute entsetzt die Straße räumen sollen, sobald ich mich ihnen nähere, so muss ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen, dass ich das ablehne.«
»Sie … Sie tun was?«
»Ich lehne es ab, mich vor diesen Menschen als Herrin aufzuspielen«, sagte Mary. »Ich bin fremd in diesem Land, und meine Hoffnung ist es, dass Ruthven meine neue Heimat werden wird. Aber das kann nur dann geschehen, wenn ich mit diesem Land und den Menschen darauf in Einklang leben kann.«
»Das wird niemals so sein«, widersprach Malcolm entschieden. »Ich kann nicht glauben, was Sie da sagen, werte Mary! Sie wollen in Einklang leben? Mit diesem Bauernpack? Sie sind Tieren ähnlicher als Ihnen und mir. Sie atmen nicht einmal dieselbe Luft wie wir. Deshalb werden sie Sie fürchten und Ihnen Respekt erweisen, wie sie es von jeher tun, seit sich vor über acht Jahrhunderten der Clan der Ruthven der Herrschaft über diesen Landstrich bemächtigt hat.«
»Ihre Vorfahren haben sich dieses Land also genommen, werter Malcolm?«
»Das haben sie.«
»Mit welchem Recht?«
»Mit dem Recht dessen, den das Schicksal auserwählt hat«, erwiderte der Laird ohne Zögern. »Zum Clan der Ruthven zu gehören ist nicht nur eine Gefälligkeit, Mary. Es ist ein Privileg. Wir blicken auf eine Tradition, die zurückreicht bis in die Tage des Bruce und auf das Schlachtfeld von Bannockburn, wo die Freiheit unseres Landes erstritten wurde. Wir sind dazu bestimmt zu herrschen, meine Liebe. Je eher Sie das verstehen, desto besser wird es sein.«
»Sehen Sie«, sagte Mary sanft, »genau das unterscheidet uns. Ich möchte vielmehr glauben, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind und dass Gott nur deshalb einige von ihnen mit Macht und Reichtum ausgestattet hat, damit sie den Schwächeren helfen und sie beschützen.«
Malcolm starrte sie an und schien einen Augenblick lang nicht zu wissen, ob er lachen oder in Tränen ausbrechen sollte. »Woher haben Sie denn das?«, fragte er schließlich.
»Aus einem Buch«, erwiderte Mary schlicht. »Ein Amerikaner hat es geschrieben. Er vertritt darin die These, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind, mit denselben Werten und derselben Würde ausgestattet.«
»Ha!« Der Laird hatte sich für das Lachen entschieden, allerdings klang es nicht sehr aufrichtig. »Ein Amerikaner! Ich bitte Sie, werte Mary! Jeder weiß, dass diese Kolonisten verrückt sind. Das Empire hat gut daran getan, sie ziehen zu lassen, damit sie ihre wirren Ideen anderswo verwirklichen können. Sie werden schon sehen, wie weit sie damit kommen – aber Sie, meine Liebe, hätte ich für klüger gehalten. Vielleicht sollten Sie Ihre Nase weniger häufig in Bücher stecken. Eine schöne Frau wie Sie …«
»Was hat mein Aussehen damit zu tun, würden Sie mir das bitte verraten?«, fragte Mary keck dagegen. »Wollen Sie mir das Lesen verbieten, mein lieber Malcolm? Und mich zu einer dieser blutleeren Aristokratinnen machen, die über nichts anderes reden können als über Hofklatsch und neue Kleider?«
In ihren Augen blitzte es angriffslustig, und Malcolm of Ruthven schien für sich zu beschließen, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihr zu streiten. Stattdessen beugte er sich wieder vor und gab dem Kutscher erneut ein Zeichen mit seinem Stock.
Mary starrte zum Fenster hinaus und sah Bäume und graue Hügel vorüberziehen. Dabei wusste sie nicht, was sie mehr erzürnte – dass ihr zukünftiger Ehemann Ansichten vertrat, die
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