Die Bruderschaft der Runen
wegen der schallenden Ohrfeige, die sie seinem Gast erteilt hatte, aber sie kümmerte sich nicht mehr darum, sondern wandte sich ab und suchte den Ausgang.
Mary verspürte das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Sie musste fort, hinaus aus diesem Saal, in dem Heuchelei und Blasiertheit herrschten. Dass ihr die Blicke zahlreicher Ballgäste dabei folgten und sie noch nicht einmal mit ihrem Bräutigam getanzt hatte, wie es die Etikette verlangte, war ihr gleichgültig. Sie wollte nur weg, ehe noch mehr Bosheiten aus ihrem Mund purzelten, die ihr später vielleicht Leid tun mochten.
Geistesgegenwärtig achtete sie darauf, dass Eleonore nicht mitbekam, wie sie sich durch einen der Nebeneingänge davonstahl. Malcolm sah sie, hielt es jedoch nicht für nötig, ihr zu folgen, und Mary war ihm dankbar dafür.
An den Dienern vorbei, die ihr verblüfft nachblickten, stürzte sie durch den Gang und die nächstbeste Treppe hinab. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Als wäre ein Damm gebrochen, rannen sie ihr über die blass gepuderten Wangen und hinterließen gezackte Linien, die aussahen, als hätte ihr hübsches Gesicht Sprünge bekommen.
Längst wusste Mary nicht mehr, wo sie sich befand; sie hatte inmitten der verschlungenen Treppen und Gänge der Burg die Orientierung verloren, aber sie lief einfach weiter. Verzweiflung und Furcht pulsierten durch ihre Adern und schlugen ihr bis zum Halse.
Hatte sie wirklich geglaubt, sich damit arrangieren zu können? Hatte sie tatsächlich angenommen, sich so verstellen zu können, dass sie einen Mann heiratete, den sie weder kannte noch liebte? Dass sie alles leugnete, woran sie glaubte, nur um ihm eine willfährige Gemahlin zu sein?
Es war üblich in Adelskreisen, dass Ehen arrangiert wurden – Vernunftehen, die auf finanzieller und gesellschaftlicher Räson basierten und mit Liebe und Romantik nicht das Geringste zu tun hatten. Aber Mary wollte nicht, dass ihr Leben so verlief! Eine Zeit lang hatte sie sich damit getröstet, dass vielleicht alles anders kommen und sie in Malcolm of Ruthven einen Mann finden würde, den sie sowohl respektieren als auch lieben könnte. Aber weder das eine noch das andere war der Fall. Malcolm war nichts als ein aufgeblasener Emporkömmling, dem Reichtum und Einfluss über alles gingen. Und was beinahe noch schlimmer war: Er betrachtete Mary als Fremdkörper in seinem Leben, den er am liebsten entfernt hätte und nur seiner Mutter zuliebe duldete.
Sollte sie so den Rest ihres Lebens verbringen? Geduldet, aber unglücklich und verzweifelt, weil keine ihrer Hoffnungen sich jemals erfüllen würde?
Schluchzend stürzte sie durch einen langen, von alten Rüstungen gesäumten Gang, der von flackerndem Kerzenlicht spärlich beleuchtet wurde. Ihr war klar, dass es eine sinnlose Flucht war, aber ihr innerer Drang, zu fliehen und alles hinter sich zu lassen, war zu stark, als dass sie ihm hätte Einhalt gebieten können.
Hals über Kopf eilte sie eine Treppe hinab, passierte ein von Wachen gesäumtes Tor – und stand unvermittelt im Innenhof der Burg, wo die Kutschen und Droschken der Ballgäste in Reih und Glied geparkt waren.
Einige Kutscher und Diener standen beisammen und unterhielten sich. Als sie Mary erblickten, verstummten sie sofort und warfen ihr verstohlene Blicke zu.
»Bitte, ihr lieben Leute«, sagte Mary und wischte sich eilig die Tränen aus dem Gesicht. »Lasst euch von mir nicht stören.«
»Ist alles in Ordnung, Mylady?«, erkundigte sich einer der Kutscher besorgt.
»Natürlich.« Mary nickte und kämpfte gegen die Tränen an. »Es ist alles in Ordnung. Es geht mir gut.«
Sie ging über den Hof. Die nächtlich kalte Luft, die sie in ihre Lungen sog, beruhigte sie ein wenig. Plötzlich hörte sie leise Musik, einen munteren, pulsierenden Rhythmus, der sich von den langweiligen Klängen der Ballkapelle grundlegend unterschied.
»Was ist das?«, erkundigte sich Mary bei dem Kutscher.
»Wie meinen Mylady?«
»Ich meine die Musik«, sagte Mary. »Hörst du das nicht?«
Der Kutscher lauschte. Der Trommelschlag, zu dem sich jetzt noch der helle Klang einer Fiedel und der muntere Schall einer Flöte gesellten, war unmöglich zu überhören.
»Nun, Mylady«, rückte der junge Mann errötend heraus, »soweit ich weiß, wird drüben im Gesindehaus ein Fest gefeiert. Eine der Mägde hat einen Burschen geheiratet.«
»Eine Hochzeit?«
»Ja, Mylady.«
»Und weshalb weiß ich nichts davon?«
»Bitte, Mylady
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