Die Bruderschaft der Runen
Bruder?« Gwynn zögerte. Ihr Innerstes sträubte sich dagegen, auch nur ein Wort von dem zu glauben, was das Runenweib sagte. Aber die Art und Weise, wie Kala mit ihr sprach, ihr Tonfall und ihr anklagender und zugleich trauriger Blick bewogen sie dazu, ihr zuzuhören. »Wie meinst du das?«, fragte sie hilflos. »Ich höre dich reden, aber ich verstehe kaum etwas von dem, was du sagst.«
»Dein Bruder, Gwynneth, hat das Schicksal selbst in die Hand genommen. Er ist dabei, gegen William Wallace zu intrigieren, den sie den ›Braveheart‹ nennen. Zusammen mit seinen falschen Freunden plant er, Wallace zu hintergehen und zu berauben. Seine Kraft soll auf Robert the Bruce übertragen werden, damit er den Thron besteigen und König von Schottland werden kann.«
»Und? Was ist falsch daran?«
»Alles, mein Kind. Der Zeitpunkt, die Runen, die Sterne. Alles. Wallace befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Um ihn zu stürzen, werden finstere Künste und dunkle Kräfte benötigt. Mit beidem hat sich dein Bruder eingelassen, freilich ohne zu begreifen, was er da tut. Jene Menschen, mit denen er neuerdings verkehrt und die seine Vertrauten geworden sind … nicht umsonst fühlst du dich in ihrer Gegenwart unwohl! Fluchbeladen sind sie und hängen einer düsteren Kunst an.«
»Du meinst den alten heidnischen Glauben?«, fragte Gwynn vorsichtig. »Sind diese Leute so wie du?«
»Nein, nicht wie ich«, zischte Kala so scharf, dass Gwynn erneut vor ihr zurückwich. »Anders, mein Kind. Voll finsterer Absichten und böser Pläne sind ihre Gedanken. Sie frönen den dunklen Runen, nicht den lichten, und ihre Kunst ist älter als alles, was du oder ich uns vorzustellen vermögen.«
Kala hatte ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt, und Gwynneth hatte plötzlich das Gefühl, am ganzen Körper zu frieren. Lag es am Nebel, der durch ihre Kleider kroch? Oder an der unbestimmten Furcht, die sie plötzlich beschlich?
»Dann muss ich Duncan warnen«, sagte sie ein wenig hilflos.
Kala lachte nur. »Glaubst du denn, das könntest du? Glaubst du, er würde auf dich hören? Glaubst du, du hättest eine Möglichkeit, mit deiner Jugend und Unerfahrenheit gegen eine Macht anzugehen, die um so vieles älter und verschlagener ist als du? Deine Stimme würde ungehört bleiben in dem Sturm, der heraufzieht. Ich kann dich nur davor warnen, sie zu erheben.«
»Aber wenn alles wahr ist, was du sagst, dann befindet sich Duncan in großer Gefahr.«
»Droht der einzelnen Flamme Gefahr durch das Feuer? Dein Bruder weiß nicht, was er tut. Die Trauer um euren Vater und der Zorn auf die Engländer haben ihn blind gemacht. Trauer und Wut sind schlechte Ratgeber für einen jungen Mann. Er glaubt, in eures Vaters Sinn zu handeln, doch in Wahrheit tut er nur das, was seine Ratgeber von ihm verlangen. Er wird derjenige sein, der Braveheart verrät und dafür sorgt, dass sein Schicksal besiegelt wird.«
»Warum warnst du Wallace dann nicht?«
»Weil ich noch nicht weiß, woher die Gefahr droht, mein Kind. Die Runen haben mir William Wallaces Schicksal offenbart. Hart und grausam wird es sein, wenn dein Bruder und seine neuen Freunde erfolgreich sind. Aber noch weiß ich nicht, wann und wo der schändliche Verrat erfolgen wird, denn auch die Runen offenbaren mir nicht alles.«
»Weshalb erzählst du mir das?«, fragte Gwynn. »Was habe ich mit den Plänen meines Bruders zu schaffen?«
»Du bist eine Ruthven, genau wie er. In dir fließt das gleiche Blut, und auch du trägst Verantwortung für euren Clan. Du darfst nicht zulassen, dass dein Bruder diese Schuld auf sich lädt. Der Clan der Ruthven wäre verflucht in alle Ewigkeit. Aber noch gibt es Hoffnung.«
»Hoffnung? Worauf?«
»Auf Erlösung, mein Kind. Du allein hältst den Schlüssel dazu in der Hand. Es ist die unbesonnene Art der Männer, Dinge zu beginnen, deren Ausgang sie nicht absehen, und um des Ruhmes willen Mächte zu entfesseln, die sie nicht kontrollieren können. Erlösung vor dem Dunkel, das euch allen droht, kann nur eine Frau bringen – und die Runen haben deinen Namen genannt, Gwynneth Ruthven …«
11.
S ir Walter verlor keine Zeit.
Wie er Professor Gainswick angekündigt hatte, wurden Quentin und er am nächsten Morgen in der Universitätsbibliothek von Edinburgh vorstellig und beantragten Zugang zur Fragmentsammlung.
Die Bibliothekare – grauhäutige Männer, die Staub zu atmen und das Tageslicht zu scheuen schienen – zeigten zunächst wenig Neigung, Scotts
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