Die Bruderschaft der Runen
die Revolte gebracht hatte, aber statt Lehren daraus zu ziehen und aus den Fehlern ihres Vaters zu lernen, war ihr Bruder Duncan bereits dabei, den nächsten Aufstand, das nächste Blutvergießen anzuzetteln.
Die Art, wie Duncan sich in den letzten Monaten verändert hatte, gefiel Gwynneth nicht. Er war älter geworden, trug jetzt mehr Verantwortung, aber das allein war es nicht. Wenn er sprach, klang er überheblich und unnahbar, und der seltsame Glanz in seinen Augen schien zu besagen, dass er sich zu mehr berufen fühlte als dazu, ein ferner Vasall des englischen Königs zu sein.
Gwynn wusste nicht, was ihr Bruder genau im Schilde führte, und es hätte auch wenig Zweck gehabt, ihn danach zu fragen. Aber es war offensichtlich, dass er etwas plante, zusammen mit den seltsamen und unheimlichen Leuten, mit denen er sich neuerdings umgab.
Früher hatten die beiden Geschwister einander alles anvertraut und waren unzertrennlich gewesen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sich dies jedoch geändert. Duncan sprach kaum noch mit Gwynneth, und wenn, dann nur, um sie zurechtzuweisen.
Anfangs hatte Gwynn es für eine Laune von ihm gehalten, für eine vorübergehende Erscheinung, die sich legen würde, wenn Duncan erst über den Verlust ihres Vaters hinweggekommen wäre. Aber sie legte sich nicht, im Gegenteil. Duncan blieb ihr gegenüber verschlossen, dafür wurde die Liste seiner mysteriösen Besucher immer länger.
Gwynneth erfuhr nicht, worum es bei den Unterredungen ging. Sie nahm aber an, dass es mit dem Aufstand zu tun hatte, mit William Wallace und dem jungen Earl of Bruce, den sie zum König krönen wollten.
Leise Furcht beschlich sie dabei. Sie hatte bereits den Vater an den Krieg verloren und wollte nicht auch noch ihren Bruder verlieren. Aber Duncans Herz hatte sich verhärtet. Er hörte nicht mehr auf sie, sondern nur noch auf seine neuen, unheimlichen Freunde.
Sooft sie konnte, verließ Gwynn deshalb die Burg und suchte der Düsternis zu entkommen, die von Duncan und seinen Beratern ausging – so wie an diesem Tag.
Unter dem Vorwand, Feuerholz zu sammeln, hatte sie sich einmal mehr aus der Burg geschlichen. Es war später Nachmittag. Dunkle Wolken hatten sich am Himmel zusammengezogen und verfinsterten die Sonne. Ganz sicher würde es Regen geben. Im Norden zog eine schwarze Wolkenwand auf, kalter Wind trieb sie heran.
Gwynn zog sich den Wollschal noch enger um die Schultern. Sie zitterte am ganzen Leib, aber es war nicht nur der kalte Wind, der sie schaudern ließ.
Hinter ihr ragten trutzig die Türme von Burg Ruthven auf. Als junges Mädchen waren sie für sie der Inbegriff von Schutz und Geborgenheit gewesen, von Ruhe und Frieden. Wenn sie jetzt allerdings zurückblickte, sah sie nichts als dunkle Mauern und drohende Zinnen. Sie fühlte unheimliche Kälte, ein Gefühl von Bedrohung, wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte.
Möglicherweise hing es mit den Träumen zusammen, die sie seit dem Tod ihres Vaters hatte. Zwei Träume waren es, die sie immer wieder heimsuchten.
In dem einen Traum ritt sie auf einem weißen Pferd durch die Landschaft der Highlands, schmiegte sich eng an das Fell des Tieres, das ihr Trost und Ruhe schenkte, fühlte sich frei und ungebunden. In dem anderen Traum veränderte sich alles, und wohin Gwynn auch blickte, sah sie nur Elend, Not und Leid. Sie sah die Highlands in Flammen stehen, sah Menschen, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, gejagt von Kriegern, deren Waffen Blitz und Donner spuckten.
Was hatte das nur zu bedeuten?
Schon unzählige Male hatte Gwynn über die Bedeutung dieser Träume nachgedacht. Weshalb wurde sie von ihnen heimgesucht? Und warum waren es immer die gleichen schrecklichen Bilder?
In der Einsamkeit, die in den Hügeln um Burg Ruthven herrschte, hoffte sie eine Antwort auf diese Frage zu finden. Die Suche nach Feuerholz war nur ein Vorwand – eine Frau, die mit sich allein sein wollte, um nachzudenken, wäre bei den Burgwachen auf Unverständnis gestoßen.
Wie immer, wenn sie die Gegend durchstreifte, folgte Gwynn zunächst dem Wasserlauf, der die Schlucht unterhalb des Westturms durchfloss. In den Sommermonaten, wenn der Bach nur wenig Wasser führte, war der Grund der Schlucht nahezu ausgetrocknet, und man fand hier Mengen von abgestorbenem Holz und dürren Zweigen.
Schon als Kind war Gwynn oft hierher gekommen, um in den schroffen Felsen umherzuklettern. Für ein Mädchen hatte sich das nicht geschickt, aber ihr Vater hatte sie
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