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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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gewähren lassen. Gwynn wusste, dass er sich eigentlich einen weiteren Sohn gewünscht und sich deshalb über jede männliche Tugend seiner Tochter gefreut hatte; aber sie rechnete es ihm hoch an, dass er sie die Enttäuschung niemals hatte spüren lassen.
    Sie stieg über einen Haufen Geröll, den die Regenfälle im Frühjahr angestaut hatten, und gelangte in einen Nebenarm der zerklüfteten Schlucht. Verblüfft blickte sie sich um, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, hier nie zuvor gewesen zu sein. Bislang war sie überzeugt gewesen, jeden Stein in dieser Gegend zu kennen – nun aber lag eine schmale Schlucht vor ihr, die sie noch nie betreten hatte.
    Auch hier gab es schroffes Gestein und felsige Klüfte, Spalten und Höhlen im grauen Fels. Neugierig stieg Gwynn ein Stück weiter, als sie plötzlich merkte, wie Nebel aufzog. Er stieg aus den Spalten und Rissen im Fels, wallte über den Boden und breitete sich rasch aus. Gwynn hatte das Gefühl, als kröche er feucht und klamm an ihr empor, um mit kalter Hand nach ihr zu greifen. Ohne dass sie es sich erklären konnte, hatte sie plötzlich Angst.
    Sie wandte sich um, wollte zum Ausgang der Schlucht zurückkehren, aber der Nebel hatte sie bereits vollständig eingehüllt. Nur noch schemenhaft konnte sie ihre Umgebung erkennen. Die knorrigen Äste abgestorbener Bäume sahen plötzlich aus wie die ausgebreiteten Arme grässlicher Trolle, die nur darauf warteten, unschuldige Wanderer zu fangen und zu verspeisen.
    Gwynn erinnerte sich an die Geschichten, die die Alten am Kaminfeuer erzählten – über Trolle, Gnome und andere Kreaturen, die im Nebel hausten. In einem Anflug von Panik ließ sie das Feuerholz fallen, das sie gesammelt hatte, und versuchte, einen Weg durch den dichten Nebel zu finden.
    »Wohin des Wegs, mein Kind?«
    Eine schnarrende Stimme ließ sie herumfahren. Gwynneth erschrak zu Tode, als unmittelbar neben ihr eine dunkle Gestalt aus dem Nebel trat. Unbemerkt hatte sie sich ihr genähert.
    Gwynn schrie vor Angst – bis sie erkannte, dass es sich weder um einen Gnom noch um einen Troll, sondern lediglich um eine alte Frau handelte.
    Sie war von gedrungener Gestalt und ging gebückt am Stock. Das Gewand, das sie trug, war pechschwarz, und an einer ledernen Schnur, die um ihren Hals hing, waren seltsame, aus Knochen gefertigte Talismane befestigt. Am eindrucksvollsten war ihr Gesicht – blasse, von Falten zerfurchte Züge, mit tief liegenden, starrenden Augen. Ihre schmale, gebogene Nase schien das Gesicht in zwei Hälften zu teilen, der Mund war klein und halb geöffnet. Zähne schien sie keine mehr zu haben.
    Ein Runenweib!, erkannte Gwynn entsetzt.
    Die Frau gehörte allem Anschein nach zu jenen Menschen, die dem alten, heidnischen Glauben frönten und denen man üble Dinge nachsagte. Es hieß, Runenweiber könnten in die Zukunft sehen und finstere Flüche verhängen, die selbst den stärksten Clansmann töteten.
    »Was willst du von mir?« Gwynns Frage klang entsprechend ängstlich.
    In einer Geste der Unschuld hob die Alte die Arme. »Was denn?«, schnarrte sie, und ihre Stimme hörte sich an wie der Ostwind, der am Morgen durch die Mauern von Burg Ruthven pfiff. »Du wirst dich doch nicht etwa vor mir fürchten?«
    »Natürlich nicht«, behauptete Gwynn in einem Anflug von Trotz.
    »Dann ist es ja gut«, meinte die Alte und kicherte. »Du musst nämlich wissen, dass es Leute gibt, die üble Dinge über mich und meinesgleichen erzählen. Vielleicht hast du ja schon von mir gehört. Mein Name ist Kala.«
    »Du … du bist die alte Kala?«
    »Du kennst meinen Namen also?«
    Gwynn nickte und wich unwillkürlich zurück. Natürlich hatte sie von der alten Kala gehört, sie allerdings nur für eine Sagengestalt gehalten, mit der man kleine Kinder erschreckte.
    Von allen Runenweibern war Kala am meisten berüchtigt. Es hieß, selbst die Druiden der alten Zeit hätten ihre Macht und ihre Zauberkraft gefürchtet, und man behauptete, dass sie viele hundert Jahre alt wäre und den Bau des großen Walls der Römer mit eigenen Augen gesehen hätte.
    »Du solltest nicht alles glauben, was man sich über mich erzählt, mein Kind«, sagte Kala, als könnte sie Gwynneths Gedanken lesen. »Nur die Hälfte davon ist wahr, und selbst davon ist die Hälfte zur Hälfte erfunden … Gwynneth Ruthven.«
    »Du kennst meinen Namen?«
    »Natürlich.« Kalas faltige Züge zerknitterten sich, was wohl wie ein Lächeln wirken sollte. »Ich kenne alle von eurem

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