Die Bruderschaft der Runen
augenblicklich. Sich umzudrehen und nach den Sprossen der Leiter zu greifen, war eins. Er wollte hinaus, nur hinaus aus dem Kellerloch und den blutrünstigen Klingen der Meuchler entkommen.
Die Namenlosen schrien empört auf, als sie sahen, dass er sich anschickte zu fliehen. Die Mordwaffen erhoben, stürzten sie zur Leiter.
Quentin kletterte nach oben, so schnell er konnte. Er merkte, wie ein Dolch nach ihm stach, spürte den Luftzug der Klinge, die ihn nur um Haaresbreite verfehlte. Knochige, abgemagerte Hände griffen nach ihm, und eine davon bekam ihn am rechten Fuß zu fassen.
Er schrie auf und schüttelte sein Bein, wehrte sich mit aller Kraft und war im nächsten Moment wieder frei. Hastig klammerte er sich an die nächste Sprosse, kletterte so schnell er konnte nach oben und durch die Öffnung hindurch.
Die Mordbande blieb ihm auf den Fersen, wollte ihr sicher geglaubtes Opfer nicht mehr entkommen lassen. Ein Menschenleben war in ihren Augen ohnehin nichts wert, und sie hatten schon aus geringeren Gründen getötet. Quentins Rock und seine neuen Stiefel waren für sie Anlass genug, zu mordenden Bestien zu werden. Mit knapper Not entkam er aus dem Schacht und rettete sich in den Hof.
»Hilfe!«, brüllte er aus Leibeskräften, aber entweder hörte ihn niemand, oder diejenigen, die ihn hörten, zogen es vor fernzubleiben.
Die Namenlosen quollen hinter ihm aus dem Schacht, zahlreich wie Ratten. Quentin rannte so schnell er konnte hinüber zum Durchgang, wo die Gasse mündete. Zu seinem Entsetzen musste er jedoch feststellen, dass der Zugang zum Innenhof verschlossen war – davor standen zwei weitere gedrungene Kerle mit Kleidung, die in Fetzen hing. Bewaffnet waren sie mit Holzknüppeln, durch die sie lange Nägel getrieben hatten – furchtbare Mordwerkzeuge aus einer Welt, in der es weder Recht noch Gesetz gab. Einer der beiden, der eine Klappe über dem rechten Auge trug, brüllte wie ein Raubtier und schwang die Keule, um seinem Opfer den Weg zu verstellen.
Quentin blieb stehen. Verzweifelt blickte er sich nach einem anderen Fluchtweg um, aber es gab keinen. Die Namenlosen, die sahen, dass er in der Falle saß, ließen sich jetzt Zeit. Sie verteilten sich und schwärmten aus, kreisten ihn auf dem Innenhof ein, hämisches Grinsen in den entstellten Gesichtern. Von dem Vermummten war weit und breit nichts mehr zu sehen, er hatte sich längst aus dem Staub gemacht.
Ein dicker Kloß wanderte Quentins schmalen Hals hinauf und hinab. Zum ungezählten Mal musste er an den Grundsatz seines Onkels denken, dass Panik selten zu etwas nütze und ein klar arbeitender Verstand auch in kritischen Situationen stets der beste Ratgeber war. Die Sache war nur: Auch der messerschärfste Verstand brachte hier nichts. Einen erkennbaren Ausweg gab es nicht, und Quentin konnte nicht verhindern, dass nackte Todesangst aus der Tiefe seines Bewusstseins kroch und sein Innerstes erzittern ließ.
Gehetzt blickte er bald hierhin, bald dorthin, aber überall sah er nur blanke Klingen und schadenfroh grinsende, ausgemergelte Fratzen. Er wusste, dass er weder Gnade noch Schonung zu erwarten hatte.
Ringsum war ein Kichern und Tuscheln, als sich die Namenlosen verstohlen miteinander unterhielten. Quentin verstand kein Wort, sie schienen ihre eigene Sprache zu haben. Immer enger zog sich ihr Kreis, und immer näher kam das rostige Eisen ihrer Klingen.
»Bitte«, sagte Quentin in seiner Verzweiflung, »lasst mich laufen, ich habe euch nichts getan« – und erntete dafür nichts als hämisches Gelächter.
Einer der Kerle – es war der Einäugige – schwang seine Keule geräuschvoll durch die Luft und setzte vor, um den Anfang zu machen. Quentin riss abwehrend die Hände hoch und schloss die Augen in der Erwartung, dass das Mordinstrument ihn mit vernichtender Wucht treffen würde.
Aber die Keule des Angreifers erreichte ihn nie. Ein satter, harter Schlag war zu hören, gefolgt von lautem Geschrei. Überrascht riss Quentin die Augen auf und sah den Grund.
Die Mörder hatten Gesellschaft bekommen.
Lautlos und wie rettende Engel waren Gestalten in weiten, braunen Kapuzenmänteln von den Dächern der umliegenden Häuser in den Hof gesprungen. Für einen Augenblick erschrak Quentin, weil er sie für Angehörige der Runenbruderschaft hielt. Aber dann sah er die Holzstäbe in ihren Händen und erkannte sie als jene, die sich in der Gasse einen heftigen Kampf mit den Runenbrüdern geliefert hatten. Wer immer sie waren, sie
Weitere Kostenlose Bücher