Die Bruderschaft der Runen
unebene Pflaster eingelassen war.
Zweifellos führte sie in einen Keller, und da dies die einzige Möglichkeit war, den Hof zu verlassen, musste es logischerweise der Weg sein, den der Mörder genommen hatte. Ohne nachzudenken packte Quentin den rostigen Eisenring und hob die Falltür an. Fauliger Geruch schlug ihm aus der dunklen Tiefe entgegen, und einen Augenblick lang zögerte er. Dann aber gab er sich einen Ruck. Wenn er jetzt aufgab, würde Professor Gainswicks Mörder ungeschoren davonkommen, und das wollte er auf keinen Fall zulassen.
Beherzt griff er nach der Leiter, die an der Schachtwand lehnte, und kletterte daran nach unten. Die Sprossen waren kalt und mit glitschigem Moos bewachsen, sodass er sich vorsehen musste, um nicht auszugleiten. Etwa drei Yards tiefer war die Leiter zu Ende, und Quentin stand im kalten, dunklen Keller.
Das wenige Licht, das in den Schacht fiel, reichte kaum aus, die Umgebung zu beleuchten. Alles, was Quentin sah, waren schemenhafte Umrisse, uralte Kisten und Fässer, deren Inhalt einen Ekel erregenden Geruch verströmte. Zudem hörte er irgendwo in der Düsternis ein Rascheln, das vermuten ließ, dass er nicht allein hier war.
Seine Entschlossenheit ließ schlagartig nach, und er sagte sich, dass es wohl eine ziemlich dumme Idee gewesen war, in den Schacht zu steigen, ohne eine Waffe bei sich zu haben oder zumindest eine Lampe. Einem jähen Impuls gehorchend, wollte er sich umdrehen und nach der Leiter greifen, um wieder hinaufzuklettern – als unmittelbar vor ihm Licht aufflammte. Es war ein Streichholz, das plötzlich entzündet wurde und den Docht einer Kerze ansteckte. In ihrem Licht erblickte Quentin eine grässliche, aus Holz geschnitzte Fratze.
Es war der Mörder, der ihm aufgelauert hatte!
Ein schwerer Mantel aus schwarzer Wolle fiel über seine hünenhafte Gestalt, und eine große Kapuze umrahmte sein verhülltes Gesicht. Die Bedrohung, die von ihm ausging, war körperlich zu spüren.
»Du suchst nach mir?«, fragte der Vermummte spöttisch. »Nun hast du mich gefunden.«
Einen Augenblick brachte Quentin vor Schreck und Furcht kein Wort heraus. Dann überwog seine Empörung über die schreckliche Bluttat, und mit aller Kraft redete er sich ein, dass das unheimliche Phantom, das aus der Dunkelheit aufgetaucht war, in Wahrheit ein Wesen aus Fleisch und Blut war, ein Mensch wie er.
»Wer sind Sie?«, wollte Quentin wissen. »Warum haben Sie den armen Professor Gainswick getötet?«
»Weil er sich mit Dingen beschäftigt hat, von denen er besser die Finger gelassen hätte«, lautete die Antwort. »Genau wie du. Es ist nicht gut, um diese Zeit lauthals brüllend durch die Straßen zu rennen. Allzu leicht weckt man die Aufmerksamkeit von Kreaturen, die man besser in Ruhe lassen sollte.«
Der Vermummte hob die Kerze, sodass ihr Schein noch mehr von dem Kellerraum erfasste. Und zu seinem Entsetzen sah Quentin, wie sich überall hinter den Fässern und Kisten etwas regte.
Gestalten kamen hervor, die nur noch mit viel gutem Willen als menschliche Wesen zu erkennen waren. Ihre Kleider waren schmutzig und hingen in Fetzen, waren kaum von ihrer ledrigen, fleckigen Haut zu unterscheiden. Aus Gesichtern, die verstümmelt und durch Narben entstellt waren, starrten blutunterlaufene Augen, und gelbe Zähne wurden in unverhohlener Mordlust gefletscht.
Quentin hatte von diesen Menschen gehört – man nannte sie die ›Namenlosen‹. Sie waren der Aussatz der Gesellschaft, hatten keine Herkunft und keine Bleibe. Sie lebten in den dunkelsten Winkeln der Stadt, und wer ihnen in die Hände fiel, der hatte keine Gnade zu erwarten. Noch nie zuvor war Quentin einem von ihnen begegnet, und nun war es gleich ein ganzes Dutzend. Unwillkürlich wich er zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Leiter stieß.
Aus dunklen Winkeln kamen sie hervor, krochen und schlichen mehr, als dass sie gingen. In ihren Händen lagen Messer und rostige Dolche, abgebrochene Rapiere, deren Klingen noch blutig waren von den Kehlen, die sie zuletzt durchschnitten hatten. Diese Menschen waren die Ausgeburten der Nacht – und der düstere Vermummte schien über sie zu gebieten.
»Er gehört euch«, sagte er zu ihnen, worauf ein hässliches Kichern durch ihre Reihen ging. Augenpaare blitzten, und einer der Kerle, der langes schwarzes Haar hatte und dessen Nase bei einer Messerstecherei gespalten worden war, hielt mit seinem Dolch auf Quentin zu, um ihn kurzerhand zu erstechen.
Quentin reagierte
Weitere Kostenlose Bücher