Die Bruderschaft der Runen
Sean.
Mary stand wie vom Donner gerührt.
»Danke, Sean«, flüsterte sie tonlos, während sie fühlte, wie ihre Knie weich wurden.
»Es tut mir Leid, Mylady«, versicherte der junge Schmied bestürzt. »Ich wollte es Ihnen nicht sagen, aber Sie haben mir keine Wahl gelassen.«
»Ich weiß.« Mary nickte.
»Es tut mir so Leid.«
»Es ist gut, Sean.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Du kannst nichts dafür. Ich wollte es ja unbedingt wissen. Setz dich und iss weiter. Du bist sicher noch hungrig.«
»Nicht sehr … Vielleicht gibt es etwas, das ich für Mylady tun könnte. Brauchen Mylady Hilfe?«
»Nein, mein lieber Freund. Was immer es mit diesen Dingen auf sich hat, muss ich selbst klären. Niemand kann mir dabei helfen.«
Sie wandte sich um und verließ das Gewölbe, verfolgt von beklommenen Blicken. Auf dem Weg nach oben hörte Mary noch immer Seans Worte, die wie ein Echo in ihrem Kopf nachhallten, und sie schauderte.
Schließlich erreichte sie die Eingangshalle und passierte die große Tür. Ihr war übel, und sie brauchte dringend frische Luft. Als sie ins helle Mittagslicht trat und die raue Luft in ihre Lungen drang, fühlte Mary sich tatsächlich ein wenig besser. Und schließlich meldete sich ihre Vernunft auch wieder zu Wort.
Es war allgemein bekannt, dass die Schotten ein abergläubisches Volk waren. Sie glaubten an geheimnisvolle Vorzeichen und derlei Hokuspokus, an Naturgeister und Fabelwesen. Die Bean Nighe war gewiss nur eine weitere Ausgeburt der fantasiebegabten schottischen Seele, redete sich Mary mit aller Kraft ein. Und dennoch …
Wie erklärte es sich, dass sie selbst die alte Frau gesehen hatte, während sich kein anderer an sie erinnerte? Wie konnte die Alte von Dingen gewusst haben, die sich vor so langer Zeit ereignet hatten? Ganz zu schweigen von dem Turmzimmer, dem Tagebuch Gwynneth Ruthvens, Marys seltsamen Träumen … Selbst der rationalste Geist würde zugeben müssen, dass die Anhäufung dieser Vorfälle mehr als geheimnisvoll war.
Am liebsten hätte Mary mit jemandem darüber gesprochen, hätte die Meinung eines unbeteiligten Dritten gehört, aber sie war allein, umgeben von Feinden und mit der düsteren Aussicht, vielleicht nicht mehr lange zu leben.
Noch am Vortag hätte sie über Seans Worte vielleicht nur gelacht. Nach der vergangenen Nacht lachte Mary nicht mehr. Furcht kroch aus ihrem Innersten empor und schnürte ihr die Kehle zu. So sehr sie nach rationalen Erklärungen suchte – es gab zu viele Widersprüche, zu viele Fragen, die sich nicht beantworten ließen. Es sei denn, sie akzeptierte, dass Dinge zwischen Himmel und Erde existierten, die sich mit bloßer Vernunft nicht erklären ließen.
Geisterwesen und Weissagungen. Seelen, die über die Grenzen der Zeit hinweg miteinander verbunden waren … Gab es derlei Dinge wirklich? Oder war sie vielleicht doch dabei, den Verstand zu verlieren? Hatten Kummer und Einsamkeit sie wahnsinnig werden lassen? Versuchte ihr Geist auf diese Weise, der tristen Realität zu entkommen?
Nein.
Was sie gesehen und erlebt hatte, war real gewesen. Keine Einbildung und kein Aberglaube, sondern Wirklichkeit. Auch Malcolms Raserei hatte sie sich nicht eingebildet, wenngleich ihr die Ereignisse der vergangenen Nacht jetzt wie ein wüster Albtraum erschienen. Ließ Mary alle vernunftmäßigen Bedenken beiseite, konnte das nur eines bedeuten: Das Schicksal hatte ihr eine Warnung zukommen lassen, eine Ahnung von dem, was geschehen würde, wenn sie ihren Weg nicht änderte.
Gwynneth Ruthven hatte bis zuletzt an das Gute in ihrem Bruder geglaubt, hatte nicht wahrhaben wollen, wie schlecht es um ihn – und damit auch um sie – bestellt gewesen war. Mary durfte nicht den gleichen Fehler begehen. Sie musste handeln, bevor es zu spät war. Nur aus diesem Grund hatte die alte Dienerin ihr geraten, Ruthven zu verlassen. So fügte sich alles zusammen, Traum und Wirklichkeit.
Mit schrecklicher Gewissheit wurde Mary klar, dass sie an einem Wendepunkt ihres Lebens angekommen war. Wenn sie in Ruthven blieb, hatte sie möglicherweise nicht mehr lange zu leben. Anfangs hatte sie ihren zukünftigen Ehemann nur für einen bornierten Aristokraten gehalten, dessen Horizont so beschränkt war wie sein Wissen. Inzwischen war ihr jedoch klar geworden, dass in ihm Abgründe schlummerten, von denen niemand – vermutlich nicht einmal seine Mutter – etwas ahnte.
Mary war sicher, dass Malcolm erneut versuchen würde, sich zu nehmen, was
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