Die Bruderschaft der Runen
gefangen. Dort fristete sie ein trauriges Dasein bei Kälte, Wasser und Brot, voller Verzweiflung über die böse Wendung, die die Dinge für sie genommen hatten. Nach einigen Tagen erhielt sie Besuch. Es war Kala, die unvermittelt vor der Tür auftauchte und sich durch das Türblatt mit ihr unterhielt. Kala behauptete, dass die Hoffnung noch nicht verloren sei, und sprach Gwynneth Trost und Mut zu. Dann schob sie etwas unter der Tür hindurch, das Gwynn verblüfft entgegennahm: Tinte, Siegelwachs und Pergament.
Das Runenweib ermunterte Gwynn, ihre Geschichte niederzuschreiben, jede traurige Einzelheit davon, und die Aufzeichnungen anschließend in der Mauer zu verstecken, wo sie einen Hohlraum und einen ledernen Behälter finden werde. Eine Erklärung dafür gab sie nicht, und Gwynn fragte auch nicht danach – sie war nur dankbar dafür, etwas zu haben, womit sie sich von ihrem traurigen Los ablenken konnte. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie Sprache und Schrift beherrschte, obwohl es ungewöhnlich war für eine Frau, und so würde es ihr keine Mühe bereiten, ihre Geschichte niederzuschreiben, wie die alte Kala es verlangte.
Als die Greisin sich von ihr verabschieden wollte, erkundigte sich Gwynn nach ihrer Zukunft. »Die Zukunft«, gab Kala zur Antwort, »ist schwer zu sehen in diesen Tagen. Die Welt ist in Aufruhr, und die Runen enthüllen nicht all ihre Geheimnisse.«
»Dann sag mir zumindest, was aus mir wird«, verlangte Gwynn.
Das Runenweib zögerte. »Du wirst stark sein müssen«, sagte sie. »Ich habe dein Ende gesehen, dunkel und böse. Dein Bruder hat eure Familie an finstere Mächte verraten, mein Kind, und ihnen wird sie gehören, viele Generationen lang.«
»Dann … gibt es keine Hoffnung mehr?«
»Hoffnung gibt es immer, Gwynneth Ruthven, selbst an einem Ort wie diesem. Nicht jetzt, aber in vielen hundert Jahren. Wenn ein halbes Jahrtausend verstrichen ist, mein Kind, wird man sich deiner Taten und Leiden erinnern. Und eine junge Frau wird erkennen, wie sehr ihr Schicksal dem deinen gleicht. Sie wird sich entschließen, es zu ändern und der finsteren Macht den Kampf anzusagen. Dann erst wird sich das Schicksal des Hauses Ruthven entscheiden.«
Mit diesen Worten endete Gwynneth Ruthvens Bericht, und Mary saß wie vom Donner gerührt. Sie ging zurück und las den letzten Abschnitt ein zweites Mal, übersetzte nochmals jedes einzelne Wort, um sich zu vergewissern, dass ihr kein Fehler unterlaufen war.
Der Wortlaut des Textes blieb derselbe – aber wie war so etwas möglich? Wie konnte die alte Kala vor so vielen Jahrhunderten gewusst haben, was sich in ferner Zukunft ereignen würde? War sie tatsächlich ein Runenweib gewesen, eine Frau, die magische Fähigkeiten besaß und in die Zukunft blicken konnte? Hatte sie damals schon gesehen, was Mary widerfahren würde?
Mary of Egton war zu sehr Realistin, um solche Dinge für möglich zu halten. Sie glaubte an Romantik und an die Kraft der Liebe, an das Gute im Menschen und daran, dass alles im Leben zu einem bestimmten Zweck geschah – aber Magie und Zauberei waren Dinge, die sich mit ihrem modernen Weltbild nicht vereinbaren ließen.
War also alles nur Zufall?
Wollte sie in ihrer Verzweiflung und ihrer Einsamkeit eine Verbindung sehen, die es in Wirklichkeit gar nicht gab?
Andererseits war da die alte Dienerin, die so verblüffende Ähnlichkeit mit Kala besaß. Und die vielen Übereinstimmungen zwischen ihr und Gwynneth Ruthven. All die Träume, die sie gehabt hatte und die so seltsam wirklich gewesen waren …
Hatte die Greisin also Recht? Waren Mary und Gwynneth Ruthven tatsächlich Seelenverwandte? Schwestern im Geiste, deren Verbindung zueinander so eng war, dass sie die Jahrhunderte überdauerte? Und waren das Runenweib und jene geheimnisvolle Dienerin tatsächlich ein und dieselbe Person?
Mary schüttelte den Kopf. Das war einfach zu fantastisch, um es zu begreifen. Die einzige Person, die ihr sagen konnte, ob all das wirklich war oder ob sie vielmehr dabei war, den Verstand zu verlieren, war die alte Dienerin. Wenn Mary Gewissheit wollte, musste sie sie zur Rede stellen und Klarheit von ihr verlangen.
Mary war überzeugt, dass dies die klügste Vorgehensweise wäre. Sie hatte nur einen entscheidenden Nachteil: Um die Dienerin zu befragen, musste sie die Turmkammer verlassen.
Es kostete sie einige Überwindung, aufzustehen und an die Tür zu treten. Ihre Glieder waren steif vor Kälte, die Hände eisig und
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