Die Bruderschaft der Runen
schilderte, was geschehen war – wenigstens so lange, bis sie sich darüber klar geworden war, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte.
Die Reise nach Abbotsford würde mehrere Tage in Anspruch nehmen. Mary hatte genügend Geld bei sich, um unterwegs in Tavernen speisen und nächtigen zu können. Die Frage war, ob es klug war, dies zu tun, denn in den Gasthöfen würden die Ruthvens zuerst nach ihr suchen.
Es war gewiss besser, wenn sie abseits der Straßen blieb und die Nächte auf entlegenen Gehöften verbrachte. Nur so konnte sie sicher sein, ihrem gewalttätigen Bräutigam zu entkommen. Entbehrungsreiche Tage lagen vor ihr, aber trotz ihrer Furcht ließ sich Mary nicht einschüchtern. Das traurige Schicksal von Gwynneth Ruthven und die Ereignisse der letzten Nacht hatten sie zu ihrem Entschluss bewogen, und sie würde nicht mehr davon abrücken.
Die Entscheidung war gefallen.
Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Mary of Egton wirklich frei.
8.
L ange nach Mitternacht saß Sir Walter noch immer in seinem Arbeitszimmer am Sekretär, im Kerzenlicht über seinen jüngsten Roman gebeugt, mit dem es nicht recht vorangehen wollte. Auch Quentin war noch anwesend, wenn auch nur körperlich. Erschöpft von den Anstrengungen des Tages, war der junge Mann im Sessel eingeschlafen. Die Decke, die Sir Walter fürsorglich über ihn gebreitet hatte, hob und senkte sich gleichmäßig unter seinen Atemzügen.
Sir Walter beneidete den Neffen fast um seinen gesegneten Schlaf; er selbst hatte seit Wochen nicht mehr als drei, vier Stunden am Stück geruht, und selbst wenn er schlief, verfolgten sie ihn bis in seine Träume: die immer gleichen, bohrenden Fragen nach dem Wieso und dem Warum. Weshalb hatte Jonathan sterben müssen? Wer waren die Drahtzieher all dieser Greueltaten? Was führten sie wirklich im Schilde? Und was hatten die geheimnisvollen Runenzeichen damit zu tun, die Quentin und er entdeckt hatten?
Hätte Sir Walter geahnt, dass dunkle Gestalten um das Haus in der Castle Street schlichen und zwischen den Vorhängen hindurch ins Innere spähten, wäre er ungleich beunruhigter gewesen; so jedoch erinnerte er sich daran, dass er Arbeit zu erledigen hatte, und versuchte, sich wieder auf den Roman zu konzentrieren, an dem er schrieb.
Unermüdlich tauchte er die Feder ins Tintenfass und ließ sie über das Papier gleiten, aber immer wieder musste er sie absetzen und überdenken, was er soeben geschrieben hatte. Nicht nur, dass er Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren. Bisweilen wusste er einfach nicht, wie es mit den Abenteuern des Helden weitergehen sollte. Der Roman spielte zur Zeit Ludwigs XI. und wenn Sir Walter ehrlich war, hatte er noch nicht einmal einen griffigen Namen für die Hauptfigur gefunden, einen jungen schottischen Edelmann, der nach Frankreich ging, um dort ruhmvolle Taten zu vollbringen.
Daran, dass er den vorgesehenen Termin noch würde einhalten können, glaubte Sir Walter inzwischen schon selbst nicht mehr; er würde James Ballantyne einen Brief schreiben müssen, in dem er sich für die Verzögerung in aller Form entschuldigte. Wenn es ihm nicht bald gelang, das Rätsel um die Runensekte zu lösen, würde sich diese ganze Angelegenheit noch nachteilig auf seine Karriere als Romancier auswirken.
Sir Walter kniff die Augen zusammen. Seine eigene Schrift verschwamm ihm vor den Augen, und er schob es auf das spärliche Licht, das die Kerzen verbreiteten. Warum, in aller Welt, war noch niemand auf die Idee gekommen, Gaslaternen, wie sie in den Straßen gebräuchlich waren, auch in Häusern zu installieren?
Eisern hielt Sir Walter die Augen offen und brachte weitere Zeilen zu Papier. Dann blinzelte er, und diesmal war es mehr als eine Irritation der Augen: Die Anstrengungen des Tages forderten ihren Tribut, und die Augenlider fielen ihm zu. Als er sie wieder aufschlug, stellte er mit einem Blick auf die Standuhr fest, dass zehn Minuten verstrichen waren.
Zehn Minuten – verschwendet, weil er sich nicht hatte beherrschen können! Sich selbst scheltend, setzte Scott seine Arbeit fort und beendete den Abschnitt, in dessen Mitte ihn der Schlaf ereilt hatte. Kaum hatte er jedoch den Punkt gesetzt, holte die Erschöpfung ihn erneut ein.
Als er die Augen diesmal aufschlug, brauchte er nicht erst auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass Zeit verstrichen war. Er sah es an den vier in weite Kapuzenmäntel gehüllten Gestalten, die vor ihm im Arbeitszimmer standen.
Entsetzen fuhr in
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