Die Bruderschaft der Runen
Onkel. Es ging alles so schnell, und ich habe mich so sehr erschreckt, dass ich nicht mehr weiß, was ich wirklich gesehen habe und was nicht.«
»Ich verstehe.« Sir Walter nickte bedächtig. »Also könnte es auch sein, dass deine Furcht dir nur einen Streich gespielt hat?«
»Es wäre möglich.«
Sir Walter nickte wieder, und Quentin konnte die Enttäuschung im Gesicht seines Onkels und Mentors erkennen. Sein Onkel war zu froh darüber, ihn gesund und am Leben zu wissen, als dass er ihn wegen seiner Unaufmerksamkeit getadelt hätte – und das verletzte Quentin beinahe noch mehr.
»Da war noch etwas, Onkel«, sagte er schnell.
»Ja?«
»Kurz bevor die Gestalt auftauchte, bevor ich ihre Schritte hörte, da hatte ich etwas entdeckt.«
»Was, mein Sohn?«
»Es war ein Zeichen. Ein Symbol, das in eine der Bodendielen geritzt war.«
»Was für ein Zeichen?«
»Das weiß ich nicht. Es war keine Zahl und auch kein Buchstabe – jedenfalls in keiner Sprache, die ich kenne. Und als ich das darüber stehende Regal untersuchte, stellte ich fest, dass einer der Bände fehlte.«
»Was sagst du?«
»Einer der Bände fehlte«, wiederholte Quentin voll Überzeugung. »Jemand muss ihn an sich genommen haben. Möglicherweise war es diese Gestalt im schwarzen Mantel.«
»Im schwarzen Mantel?« Sir Walters Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als hätte Quentin gerade etwas ungeheuer Wichtiges gesagt. »Sagtest du, der Vermummte trug einen schwarzen Mantel? Vielleicht aus Wolle?«
»Mit einer Kapuze«, bestätigte Quentin. »Weshalb ist das wichtig, Onkel?«
»Weil Doktor Kerr schwarze Wollfasern an Jonathans Leichnam gefunden hat«, erklärte Sir Walter tonlos. »Ist dir klar, was das bedeutet, mein Junge?«
»Dass ich mir jene Gestalt doch nicht eingebildet habe?«, fragte Quentin vorsichtig.
»Mehr als das. Es könnte bedeuten, dass du dem Mörder von Jonathan begegnet bist. Und dass er versucht hat, auch dich zu töten.«
»Auch mich zu töten?« Ein dicker Kloß schnürte Quentin die Kehle zu. »Aber weshalb, Onkel? Warum sollte jemand so etwas Schreckliches tun?«, krächzte er.
»Das weiß ich nicht, Quentin«, erwiderte Sir Walter düster. »Aber ich fürchte, dass deine Entdeckung den Ereignissen eine völlig neue Wendung gibt. Ob es Sheriff Slocombe gefällt oder nicht – wir werden die Garnison alarmieren müssen.«
Wenige Tage nach dem Brand im Archiv von Dryburgh fuhr eine von uniformierten Reitern eskortierte Kutsche die schmale Straße hinab, die am Ufer des Tweed entlang nach Abbotsford führte.
In der Kutsche saßen John Slocombe, der Sheriff von Kelso, und ein weiterer Mann, in dessen Gegenwart Slocombe sich äußerst unwohl fühlte.
Der Mann war Brite.
Obwohl er einen zivilen Gehrock und graue Hosen mit Reitstiefeln trug, hatte seine Erscheinung etwas Militärisches. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten, die Augen blickten stechend, und die Gesichtszüge wirkten geradezu asketisch. Der schmale Mund war wie mit einem Messer geschnitten, und die Haltung des Mannes ließ keinen Zweifel daran, dass er gewohnt war, Befehle zu erteilen.
Sein Name war Charles Dellard.
Inspector Dellard.
Mit umfassenden Befugnissen ausgestattet, war er im Auftrag der Regierung unterwegs, um die mysteriösen Vorfälle in der Bibliothek von Kelso zu untersuchen.
Slocombe wagte es kaum, seinem Gegenüber ins Gesicht zu sehen. Unterwürfig blickte er zu Boden, nur hin und wieder, wenn er hoffen konnte, dass der andere ihn nicht dabei beobachtete, wagte er es, Dellard einen verstohlenen Blick zuzuwerfen.
Die schlimmsten Befürchtungen des Sheriffs waren noch übertroffen worden. Das Gesetz, das den Landfrieden jenseits der Borders aufrechterhalten sollte, sah vor, dass, wann immer die örtlichen Sheriffs mit der Lösung einer Aufgabe überfordert waren, die Militärgarnisonen zur Unterstützung angefordert werden sollten. Die Vorstellung, dass ein arroganter englischer Offizier, der in den Norden versetzt worden war, damit er sich hier seine Sporen verdiente, aufkreuzen und seine Arbeit übernehmen würde, hatte Slocombe ganz und gar nicht behagt, weshalb er Sir Walter gebeten hatte, die Sache für sich zu behalten. Es war nie gut, die Hilfe der Engländer in Anspruch zu nehmen, denn allzu häufig wurde man sie nicht mehr los.
Nach dem Brand der Bibliothek, bei dem sein Neffe beinahe ums Leben gekommen wäre, war Scott jedoch durch nichts mehr davon abzubringen gewesen, die Hilfe der Garnison
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