Die Bruderschaft der Runen
Sir Walters Neffe räusperte sich. Er war es nicht gewöhnt, vor so vielen Leuten zu sprechen, noch dazu wenn Vertreter des Gesetzes darunter waren. »Ich meine, ich verstehe nicht allzu viel von diesen Dingen«, sagte er, »aber kurz bevor dieser Vermummte auftauchte, hatte ich in der Bibliothek etwas entdeckt. Es war eine Art Zeichen.«
»Ein Zeichen?« Dellard zog die Brauen hoch.
»Es sah ziemlich fremdartig aus, und es war in eines der Dielenbretter geritzt. Als ich das Regal darüber genauer in Augenschein nahm, sah ich, dass eines der Bücher fehlte. Möglicherweise wurde es gestohlen.«
»Und Sie denken, dass jemand zwei Morde riskiert, nur um ein altes Buch an sich zu bringen?«, fragte Slocombe spitz.
»Nun ja, ich …«
»Ich fürchte, diesmal muss ich unserem wackeren Sheriff beipflichten«, sagte Dellard mit entschuldigendem Lächeln. »Ein geheimnisvolles Zeichen und ein verschwundenes Buch scheinen mir keine ausreichenden Anhaltspunkte für einen Mord zu sein, geschweige denn für zwei.«
»Mit Verlaub.« Sir Walter schüttelte den Kopf. »Das ist alles, was wir haben.«
»Mag sein. Aber ich gehe davon aus, dass sich bei näherer Untersuchung des Falles noch weitere Hinweise ergeben werden. Mit einem verschwundenen Buch dürften die Vorfälle in der Bibliothek kaum zusammenhängen.«
»Was macht Sie so sicher?«
Dellard zögerte einen winzigen Augenblick, dann erschien wieder das unverbindliche Lächeln auf seinen Zügen. »Ich bitte Sie, Sir Walter. Ich weiß, dass Sie ein Mann sind, der sein Geld mit dem Schreiben von Geschichten verdient, und ich habe Respekt vor Ihrer Kunst. Aber bitte verstehen Sie auch, dass ich mich bei meinen Ermittlungen nur an die Fakten halten kann.«
»Das verstehe ich durchaus. Doch sollten Sie nicht zunächst den Spuren folgen, die Sie haben, Inspector, ehe Sie nach weiteren suchen?«
»Durchaus, Sir. Aber bei dieser Sache geht es nicht um ein verschwundenes Buch, das können Sie mir glauben.«
»Nein?« Sir Walters Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Worum geht es dann, Inspector? Gibt es da etwas, das Sie uns verschweigen?«
»Wo denken Sie hin, Sir?« Dellard machte eine abwehrende Geste. »Vergessen Sie bitte nicht, dass ich auf Ihre Anforderung hin hierher geschickt wurde. Natürlich werde ich Sie zu jedem Zeitpunkt über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden halten. Aber meine Erfahrung auf dem Gebiet der Kriminalistik sagt mir, dass wir es hier nicht mit verschwundenen Büchern und ähnlichem faulen Zauber zu tun haben, sondern dass der oder die Täter andere Ziele verfolgen.«
»Ich verstehe«, sagte Sir Walter nur. Seinen starren Zügen war nicht anzumerken, ob er Dellard Glauben schenkte oder nicht. Zumindest glaubte der Inspector, eine Spur von Zweifel im Gesicht des Schriftstellers wahrzunehmen.
»Wie dem auch sei«, sagte er deshalb, »ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, den Fall aufzuklären und dafür zu sorgen, dass in diesem Landstrich wieder Ordnung und Ruhe einkehren. Der Tod Ihres Studenten wird nicht ungeahndet bleiben, Sir Walter, das verspreche ich Ihnen.«
»Danke, Inspector. Mein Neffe und ich wissen Ihre Bemühungen sehr zu schätzen.«
»Zu Ihren Diensten.« Dellard verbeugte sich. »Ich werde in den nächsten Tagen wieder vorbeikommen, um Sie über den Fortgang der Ermittlungen in Kenntnis zu setzen. Möglicherweise«, fügte er verheißungsvoll hinzu, »können wir den Fall innerhalb weniger Tage aufklären.«
»Das wäre sehr beruhigend«, versicherte Sir Walter, und Dellard und Slocombe wandten sich zum Gehen.
Mortimer, der Hausverwalter, brachte die beiden Männer zurück zum Tor, wo die Kutsche und die bewaffnete Eskorte warteten. Mit einer Handbewegung gebot Dellard seinen Leuten aufzusitzen, dann stieg er in die Droschke.
Während der Fahrt, die am Ufer des Tweed entlang zurück nach Kelso führte, sprach der Inspector kein Wort. Die Stille, die dabei entstand, empfand Slocombe, der ihm in der Kutsche gegenübersaß, als unerträglich. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
»Sir?«, fragte er leise.
»Was ist?«
»Als Scott Sie fragte, ob Sie ihm etwas verschweigen, da haben Sie für einen Augenblick gezögert …«
Der Blick, mit dem Dellard den Sheriff bedachte, war vernichtend. »Was soll das heißen, Sheriff? Bezichtigen Sie mich der Lüge? Glauben Sie, ich hätte Sir Walter etwas verheimlicht?«
»Natürlich nicht, Sir. Ich dachte nur …«
»Sie haben Recht mit Ihrer Vermutung«,
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